Um die Primärversorgung zu sichern, müssen Gesundheitsjobs attraktiver gemacht werden.
Foto: imago images/photothek/Thomas Trutsche

Die gute Nachricht ist: Österreich hat ein Ziel, wohin die Reise in Sachen Gesundheit gehen soll. Es lautet: "Alle Menschen in Österreich sollen länger in Gesundheit leben." Bis zum Jahr 2030 sollten es für jeden Bewohner und jede Bewohnerin des Landes konkret zwei Jahre mehr sein. Die schlechte Nachricht: dass das auch passiert, danach sieht es nicht aus. Um das große Ziel zu erreichen, die Bevölkerung länger gesundzuhalten, wurden in einem aufwendigen Prozess zehn Ziele erarbeitet, die der Ministerrat und die Bundesgesundheitskommission bereits 2012 verabschiedet haben.

Primärversorgung sichern

Das Problem ist: Die Ziele sind nicht bindend. Die Verantwortlichen in Österreich wissen jetzt zwar, wohin die Reise gehen soll, wie schnell, wie genau und bis wann etwas bewegt werden muss, ist aber offen. Ein Problem liegt in der Struktur des österreichischen Gesundheitssystems: Es ist stärker fragmentiert als in anderen Ländern, mehrere Stakeholder müssen sich auf Reformen einigen – heraus kommen oft ein zähes Ringen um den kleinsten gemeinsamen Nenner und kein großer Wurf. Ein Beispiel ist der geplante Ausbau der Primärversorgung: Er liegt weit hinter Plan. Dabei wären diese Ärztezentren mit qualifiziertem Pflegepersonal und Therapeutinnen dafür gedacht, Spitalsambulanzen merkbar zu entlasten. Für eine umfassende Reform des Mutter-Kind-Passes tagten über Jahre Arbeitsgruppen. Dass Kassenverträge attraktiver gestaltet werden müssen, damit es mehr Kassenärzte im niedergelassenen Bereich gibt, ist ebenfalls seit Jahren ein Streitpunkt.

Wenn der Bund eine Maßnahme vorgibt und Sozialversicherung, Länder und Ärztevertretung sich auf konkrete Maßnahmen einigen müssen, verhandeln drei Krankenkassen mit neun Bundesländern, in denen es jeweils eine eigene Landesärztekammer gibt, zusätzlich zur Bundeskammer. Dass dies Verhandlungen äußerst zäh macht, ist nachvollziehbar. So lehnte etwa die Standesvertretung die Einführung der Primärversorgungszentren oder die elektronische Gesundheitsakte jahrelang ab.

Lösungsansätze über verschiedene Ebenen

Um sich den zehn übergeordneten Gesundheitszielen anzunähern, müssten wir uns auf vielen Ebenen anstrengen. Konkret geht es um: gesundheitsförderliche Lebens- und Arbeitsbedingungen für alle Bevölkerungsgruppen und gesundheitliche Chancengerechtigkeit. Die Gesundheitskompetenz der Bevölkerung müsste gestärkt und die Lebensgrundlagen wie Luft, Wasser und Boden müssten gesichert werden. Auch der soziale Zusammenhalt ist wichtig, ein gesundes Aufwachsen für alle Kinder und Jugendlichen muss ermöglicht werden. Weitere Ziele sind gesunde Ernährung und ausreichend Bewegung für alle, sowie die Förderung der psychosozialen Gesundheit. Nicht zuletzt geht es um eine qualitativ hochwertige, effiziente Gesundheitsversorgung.

Vier Szenarien zur Frage, wie all das in Zukunft erreicht werden kann.

Mehr gesunde Lebensjahre könnten durch gesündere Entscheidungen, beispielsweise für mehr Bewegung, erreicht werden.
Foto: Christian Fischer

PRÄVENTION AUSBAUEN: Die Verhältnisse und das Verhalten ändern

Die Lebenserwartung der Menschen in Österreich liegt zwar über dem EU-Schnitt – sieht man die Anzahl der Jahre an, die sie in guter Gesundheit verbringen, zeigt sich jedoch ein anderes Bild. Laut dem "State of Health in the EU"-Bericht von 2021 sind 40 Prozent der Todesfälle auf verhaltensbedingte Risikofaktoren wie Rauchen, schlechte Ernährung und Bewegungsmangel zurückführen. Häufigste Todesursachen sind Herz-Kreislauf-Erkrankungen, gefolgt von Krebs.

"Österreich hat, was Prävention und Gesundheitsförderung betrifft, sehr, sehr viel Luft nach oben", versucht Kathryn Hoffmann vom Zentrum für Public Health an der Med-Uni Wien positiv zu formulieren. Wichtig wäre, "dass sich die Rahmenbedingungen ändern, um die gesunde Entscheidung zur einfachen Entscheidung zu machen", sagt die Expertin. Sie meint damit: gute und sichere Radwege bauen, die zur Bewegung animieren. Oder Handelsketten ins Boot holen, damit gesunde Nahrungsmittel auf Augenhöhe platziert werden. Es gibt historische Beispiele dafür, dass Rahmenbedingungen geändert werden müssen, wenn sich die Gesundheit der Bevölkerung verbessern soll. Ein solches Beispiel war der Bau der Kanalisation in Wien. In Corona-Pandemie-Zeiten könnte es der Standardmäßige Einbau von Luftfilter- und Abluftsystemen in Schulen, Kindergärten und Firmengebäuden sein, meint Hoffmann.

Serie: Österreich braucht dringend eine Kurskorrektur. Korruption sowie Freunderl- und Parteienwirtschaft widern die Menschen zunehmend an. Was müsste geschehen, wer muss aktiv werden und wie? In einer Serie widmet sich DER STANDARD
drängenden Fragen zur Zukunft unseres Landes.
Foto: STANDARD

"Prävention ist in Österreich ein Tohuwabohu", kritisiert Gesundheitsexpertin Maria M. Hofmarcher-Holzhacker von Health System Intelligence. Niemand stimme sich ab. Wichtig wäre eine Gesamtstrategie, ab der Schwangerschaft. "Dort beginnt aktives und gesundes Altern."

Ein sinnvolles Projekt seien die "Frühen Hilfen", die es in Österreich zwar seit 2011 gibt, aber nur in Ansätzen – die jetzige ist die dritte Regierung, die sie ausbauen will. Es geht um niederschwellige Angebote, die darauf abzielen, Entwicklungsmöglichkeiten und Gesundheitschancen von Kindern und Eltern frühzeitig zu fördern und zu verbessern. Die "Frühen Hilfen" sollen auch soziale Ungleichheiten dämpfen: Noch immer hat es viel mit Bildungsgrad und Einkommen zu tun, ob man gesunde Entscheidungen für das eigene Leben treffen kann. Das betreffe auch viele Menschen mit Migrationshintergrund.

Durchdachte Screenings

Ein weiteres Instrument ist der Mutter-Kind-Pass, bald "Eltern-Kind-Pass" genannt. Er sei ein exzellentes Präventionsinstrument, sagt Hoffmann. Risikofaktoren und frühe Erkrankungen können bereits in der Schwangerschaft und im frühen Kindheitsalter entdeckt werden.

Dass Österreich Erwachsenen jährlich die Gratis-Gesundenuntersuchung anbietet, beurteilen die Expertinnen als weniger gelungen: Besser wäre, die Menschen ab einem gewissen Alter dazu zu verpflichten. Aktuell machten nur jene den Check-up, die ohnehin besser auf ihr Wohlbefinden achten.

Um dem Personalmangel im Gesundheitswesen entgegenzuwirken, braucht es kreative Lösungen.
Foto: Corn

VERSORGUNG SICHERN: Gesundheitsjobs attraktivieren, Zusammenarbeit fördern

Österreich gibt im EU-Vergleich überdurchschnittlich viel für das Gesundheitssystem aus. Rund ein Drittel der Mittel fließen in stationäre Versorgung, 30 Prozent in ambulante Behandlung und nur zwei Prozent in Prävention. Die Zahl der Ärzte und auch der Pflegekräfte sind vergleichsweise hoch, der Anteil der Allgemeinmediziner aber gering. Spitäler sind für die Versorgung Kranker immer noch zentral. Dabei fehlen dort massiv Pflegepersonal sowie Ärztinnen und Ärzte in bestimmten Fächern. Zugleich stockt der Ausbau der Primärversorgungszentren – jene Art von Gruppenpraxen, die mit Pflegepersonal und Therapeutinnen sowie längeren Öffnungszeiten Spitäler entlasten sollten.

Was ist zu tun? "Man muss mehr beachten, was Frauen brauchen", sagt Ökonomin Hofmarcher-Holzhacker. Im Gesundheitsbereich seien 80 Prozent der Beschäftigten Frauen, und auch die Mehrheit der Medizinabsolvierenden ist weiblich.

Befragungen zeigen, dass Beschäftigten im Gesundheitsbereich eine gute Work-Life-Balance immer wichtiger wird. Ein Schweizer Klinikbetreiber heftet sich zum Beispiel offensiv flexible Arbeitsmodelle auf die Fahnen. In Österreich bieten einzelne Bundesländer (etwa Tirol und Niederösterreich) Studienstipendien für Medizin an, verknüpft an anschließende Arbeitsverpflichtungen dort.

Gegen den Pflegemangel wird mit der Pflegereform in Österreich an einigen Stellschrauben gedreht, insbesondere in der Ausbildung. Außerdem will der Bund versuchen, mit anderen EU-Staaten akkordiert Personal aus Nicht-EU-Staaten anzuwerben. Dass Pflegerinnen und Pfleger, die noch in Ausbildung sind, Praktika in den oft überlasteten Spitälern absolvieren, ist suboptimal. Das Pflegepersonal muss zudem von Bürokratie befreit werden. Der Gesundheitsminister forderte kürzlich mehr Verwaltungspersonal.

Im niedergelassenen Bereich geht es weiters um die Frage, wie Kassenverträge attraktiver werden können und wie damit umzugehen ist, dass der Wahlarztsektor seit Jahren wächst. Um die Allgemeinmedizin aufzuwerten, wird derzeit eine Facharztausbildung erarbeitet. Das beurteilt Gesundheitsökonom Thomas Czypionka vom Institut für Höhere Studien (IHS) positiv. Auch Fortbildungen für die Primärversorgungseinheiten hätte es seit Jahren schon gebraucht, um den Ausbau voranzutreiben, meint er. Außerdem müssten die Berufsgruppen im Gesundheitsbereich besser zusammenarbeiten.

Im niedergelassenen Bereich gibt es das Projekt der Community-Nurses, das ebenfalls etwas langsamer ausgerollt wird als ursprünglich geplant: Es geht um diplomierte Pflegekräfte, die mehr als klassische Hauskrankenpflege anbieten sollen, vor allem in Richtung Prävention und Beratung. In Österreich fehle dafür die Struktur, sagt Hofmarcher-Holzhacker. Das Konzept dient vor allem der Versorgung von älteren Personen, die – oft allein – zu Hause leben.

Die Spitäler sind die teuerste Versorgungseinheit im Gesundheitssystem.
Foto: Corn

MEHR GELD, WENIGER TÖPFE: Mehr Innovation von unten zulassen

Derzeit ist das Gesundheitssystem in Österreich mehrfach geteilt: hier die Spitäler, da der niedergelassene Bereich. Grob gesagt, ist der Bund für allgemeine Gesundheitspolitik zuständig, die Länder sind für Spitäler und Pflege verantwortlich, die Sozialversicherung kümmert sich um den niedergelassenen Sektor, Medikamente und Reha.

Diese sektorale Ausrichtung kritisiert Gesundheitsökonom Thomas Czypionka: "Der Versorgungsprozess muss sich an den Patienten orientieren", sagt er. Lösungen müssten sich von unten nach oben entwickeln. Habe etwa ein Facharzt Ideen, wie man einen stationären Patienten auch ambulant behandeln könnte, werde das derzeit verhindert, obwohl es besser für Patientinnen wäre und günstiger käme.

Ein weiterer Schwachpunkt ist die mangelhafte Digitalisierung. "Man kann über die Digitalisierung zu mehr Daten kommen, die zudem qualitätsvoller sind", sagt Czypionka. Aktuell werde vieles nicht erhoben. Daher könne man – insbesondere, weil Medizin immer komplexer werde –, oft nicht wissen, ob eine im Behandlungsverlauf getroffene Entscheidung gut war oder nicht.

Mehr Daten und mehr Geld

Die Statistik Austria schätzt, dass die Gesundheitsausgaben 2021 bei rund 49 Milliarden Euro oder 12,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) lagen. Pandemiebedingt ergibt das ein Plus von 12,6 Prozent. Ökonomin Maria M. Hofmarcher-Holzhacker warnt vor großem Spardruck auf das Gesundheitssystem. Die Nachfrage und der Bedarf an gesundheitlicher Versorgung steigen allein aufgrund der demografischen Entwicklung und Innovationen bei Diagnostik und Therapie. Das müsse berücksichtigt werden. Das sieht auch Czypionka so.

Bund und Länder wollen beim nächsten Finanzausgleich etwas an der Finanzierung im Gesundheitssystem ändern. Schon oft von Experten und Politik gefordert (und stets gescheiter) wäre die Finanzierung aus einer Hand. Eine Institution wäre dann verantwortlich dafür, dass Patientinnen und Patienten besser, schneller und auch kostengünstiger gesund werden.

Wissen über Gesundheit sollte ab dem Kindergarten standardmäßig vermittelt werden.
Foto: Corn

WISSEN, WISSEN, WISSEN: Eine gesundheitskompetente Bevölkerung

Österreicherinnen und Österreicher nehmen das Gesundheitssystem sehr häufig in Anspruch. "Zum einen, weil es einfach erreichbar und möglich ist, zum anderen, weil die Menschen Krankheitssymptome oft nicht mehr richtig einschätzen können und überfordert sind", sagt Kathryn Hoffmann vom Public Health Institut, die dazu auch geforscht hat. Das Ergebnis: Sie gehen auch bei kleineren Wehwehchen lieber ins Spital als zum Hausarzt.

Das Zauberwort hieße hier: Gesundheitskompetenz. Menschen müssen fähig sein, im Alltag relevante Gesundheitsinformationen zu finden, zu verstehen, und Entscheidungen zu treffen, die ihrer Lebensqualität und Gesundheit dienen. Diese Kompetenz haben Länder wie Dänemark und Norwegen laut Hoffman bisher gut gefördert, Österreich eher nicht.

Eine vom Sozialministerium in Auftrag gegebene Gesundheitskompetenzerhebung legte 2021 die Folgen geringer Gesundheitskompetenz offen: ungünstigeres Bewegungs- und Ernährungsverhalten, höheres Gewicht (BMI) sowie häufiger chronische Erkrankungen – und damit häufigeres Aufsuchen von Gesundheitseinrichtungen.

Österreichs Bevölkerung müsse über Kampagnen klar informiert werden, in klassischen und über soziale Medien, fordert Hoffmann. Eine besondere Rolle komme den Schulen und Kindergärten zu. Es gebe zwar Ansätze und Projekte, mit denen das Wissen über Gesundheit und Wohlbefinden gefördert und gestärkt werden soll, Gesundheitskompetenz müsse aber Standardmäßig spielerisch vermittelt werden. "Ein Beispiel, wo das schon gut läuft, ist die Zahnhygiene", sagt Hoffmann. Es sei aber noch viel mehr Wissen notwendig: Was sind häufige infektiöse Erkrankungen? Wie sind sie übertragbar? Wie kann ich mich und andere schützen? Was ist Stress? Wann geht’s mir gut?

Wenn es freilich um die Gesundheit der Psyche geht, ist es mit mehr Wissen nicht getan. Hier fehlen nach wie vor Facharztpraxen mit Kassenverträgen. Die enormen Engpässe in der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Spitälern sollen derzeit mit "aufsuchenden Teams" (Projekt "Home Treatment") etwas abgefedert werden. Es ist ein Tropfen auf den heißen Stein.
(Gudrun Springer, 3.12.2022)