Unfreundlich sein und dementsprechend amtshandeln: In der TV-Kulturserie "Ein echter Wiener geht nicht unter" wird es heftig (Herbert Fux, li., Karl Merkatz als Titelheld Edmund Sackbauer).

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Der große Poet Hans Carl Artmann besaß eine höchst präzise Vorstellung davon, welche Gegenstände dazu geeignet sind, das besondere Interesse gestandener Wienerinnen und Wiener ("weana") zu erregen: "wos an weana olas en s gmiad ged". Selbst aus Breitensee in Wien-Penzing stammend, ermittelte Artmann, der gelegentlich in Mundart dichtete, anno 1959 eine Liste schauerlich-schöner Nebensächlichkeiten. Unentbehrlich dünkt den Wiener zum Beispiel: "a r ogschöde buanwuascht", was nichts Geringeres meint als eine sorgfältig von ihrer Haut befreite Burenwurst.

Hervorstechend unter den vielen Sehenswürdigkeiten – 30 an der Zahl – sind Artmanns Hinweise auf eine labil zu nennende Gemütsart. Wie unlängst unter rund 12.000 hierorts ansässigen Ausländern erhoben, darf sich die Metropole an der schönen blauen Donau ihrer durchschlagenden Unfreundlichkeit rühmen. In einer Aufstellung von 50 Großstädten, die in allen Weltgegenden liegen, rangiert Wien in den Kategorien "Freundlichkeit" und "Eingewöhnung" abgeschlagen am letzten Platz.

Wie denken Wiener und Wienerinnen über die angebliche Unfreundlichkeit? Das Videoteam hat sich in Wien Hietzing umgehört

DER STANDARD

Das Fließwasser funktioniert, das hiesige Transportwesen wird von den Dauergästen sogar übereinstimmend als vorbildlich gerühmt. Demgegenüber steht unterm Strich der Hinweis auf die heimische Mentalität, und die wirkt auf andere, deutlich Ungeübtere, ausschließend. Artmanns Liste enthält, als poetische Auflistung verbrämt, einige sachdienliche Hinweise.

"Es gschbeiwlad fua r ana schdeeweinhalle" bezeichnet zum Beispiel nicht nur Erbrochenes, das nach unmäßigem Weingenuss stoßweise ans Licht befördert worden ist. Wichtiger scheint die damit einhergehende Selbstcharakteristik: Die latent lauernde Bereitschaft zur Aggression, die man den Wienern aus allerlei Gründen zur Last legt, vor allem auch historischen, richtet sich zuallererst gegen sich selbst. Was brauchen die solcherart mit sich selbst Geschlagenen also noch Fremde, an denen sie ihr Mütchen kühlen können?

Ob Karl oder Mundl...

Das bis zum Überdruss wiedergekäute Klischee von in Wien hausenden Herren, die entweder Karl oder Mundl heißen und sich vornehmlich selbst nicht schmecken können, darf ruhig mit internationalen Trends abgeglichen werden. Was den zerfallenden Gesellschaften rund um den Globus recht ist, darf den Wienerinnen billig sein. Der sozialwissenschaftliche Befund ist von großer Allgemeingültigkeit: Wohin man blickt, erodieren die ehemals gefestigt wirkenden, lokal verankerten Gesellschaften.

Hinter den Stadttoren überall ein Ähnliches: Während die ökonomische Ungleichheit immer mehr zunimmt, setzt – am anderen Ende der Skala – ein scheinbar unumkehrbarer Prozess der Diversifizierung ein. Wie meist in solchen Fällen, schafft der Prozess der Umwälzung viele Gewinner. Und produziert doch weitaus mehr Verlierer.

"Anywheres" nennt man die Profiteure einer noch nie dagewesenen Mobilität: Sie sind überall unterwegs, aber nirgends zuhause. Ihr Pendant bilden die "Somewheres". Letztere sitzen, unfreundlich gesprochen, fest. Sie verfügen über die schlechtere Ausbildung und einen geringeren Wohlstand. Sie fühlen sich von den neu Hinzugezogenen bedrängt und leiden unter Konkurrenzdruck.

Vaporisierte Werte

Der Soziologe konstatiert: Die lokal Abgehängten bemerken, dass sie "stressiert" werden. Sie empfinden mehr oder minder deutlich die auf sie schmerzlich wirkenden Verluste. Werte (Schnitzel, Sauerampfer, SPÖ-Sektion) verlieren zunehmend an Verbindlichkeit.

An die verwaiste Stelle tritt eine Vielzahl von Normen, die auf die "Verlierer" wie Maßregelungen wirken. Nichts kann in einer solchen Gesellschaft mehr vorausgesetzt werden. Im Soziologen-Sprech lautet der Befund: "Interaktionen sind von nun an stärker norm-, weniger wertebasiert". Der Städtebewohner murrt, er fühlt sich gegängelt. Er schlüpft, in Ermangelung geeigneter Argumente, ins Wutbürger-Kleid.

Im Dickicht der Städte findet sich jede Menge Platz für Blasen: Sphären der Verständigung für jene, die lieber unter sich bleiben. Manche Defizite Wiens, darunter die verspätete Demokratisierung, werden von den Betroffenen bekanntlich diffus wahrgenommen, als Mängel, die man lieber vor sich selbst verborgen hielte. Und so vereinen die Wienerinnen und Wiener ihre Melancholie im Blick auf das gemeinsame Wahrzeichen: den, wie Artmann einst schrieb, "liaben oeden schdeffö!" Diese Aussicht verdient es durchaus, mit anderen geteilt zu werden. (Ronald Pohl, 3.12.2022)