"Bilder wirken sehr emotional. Das kann bei Teenagern Krisen noch einmal verstärken", weiß Schulpsychologin Beatrix Haller.
Foto: Privat

Ein ästhetisches Schwarz-Weiß-Bild, eine Träne, die über eine Wange läuft. Wie vieles ist auch Mental Health auf Instagram oft Teil einer Inszenierung. Doch es gibt auch einen anderen Trend: Jugendliche, die auf Tiktok Fotos blutverschmierter Rasierklingen posten, mit denen sie sich geritzt haben. Die in Videos über Symptome und Diagnosen sprechen, teils ohne zuvor einen Arzt konsultiert zu haben.

Solche Bilder provozieren einen gewissen Nachahmungstrend, mit dem Beatrix Haller in ihrer Arbeit ständig konfrontiert ist. Sie ist Schulpsychologin, betreut unter anderem Jugendliche an der HTL Rosensteingasse in Wien und leitet die Abteilung Schulpsychologie / Schulärztlicher Dienst im Bildungsministerium. Dieses Angebot ist extrem wichtig. Denn immer mehr Jugendliche haben psychische Probleme. Laut einer Studie der Donau-Universität Krems hat einer von sechs Jugendlichen ab 14 Suizidgedanken, jeder zweite hat Anzeichen von Depressionen. Im Interview erklärt Haller, wie man damit umgeht.

STANDARD: Immer mehr Influencerinnen und Influencer teilen ihre psychischen Erkrankungen mit ihren Followern. Wie sehr beeinflusst das Jugendliche?

Haller: Das ist ein zweischneidiges Schwert. Natürlich kann es zur Entstigmatisierung beitragen, es ermutigt manche dazu, sich Hilfe zu holen. Aber es kann auch negativ beeinflussen. Auf Instagram oder Tiktok werden ja nur Bilder und kurze Videoclips gezeigt. Bilder emotionalisieren aber viel stärker als ein geschriebener Text. Vor allem bei Teenagern, die bereits in einer Krise stecken oder erste Symptome einer psychischen Erkrankung aufweisen, können solche Beiträge die Krise noch einmal verstärken.

STANDARD: Es werden ja auch verstörende Dinge wie Eigenverletzungen und mehr gezeigt ...

Haller: Genau, und das kann Nachahmungen auslösen. Selbstverletzungen zum Beispiel haben eine sehr starke Wirkung auf junge Menschen, das weiß man aus verschiedenen Studien und Untersuchungen. Wenn so etwas in einer Klasse passiert, sollen die Lehrenden deshalb möglichst sachlich, neutral und unaufgeregt reagieren, dahingehend werden sie auch geschult. In weiterer Folge stellen sie den Kontakt zur Schulpsychologin oder zum Schulpsychologen her, die oder der, wenn nötig, das Thema mit einzelnen Schülern bespricht.

STANDARD: Und wie hilft man dem betroffenen Schüler oder der betroffenen Schülerin?

Haller: Wenn wir eine Diagnose stellen, dann wird bei Bedarf der Kontakt mit einem Kinder- und Jugendpsychiater hergestellt. Leider gibt es da oft lange Wartezeiten, wir versuchen dann, in dieser Phase eine Brücke zu schaffen. Der Schüler oder die Schülerin bekommt weitere Gesprächstermine, damit er oder sie nicht ohne Unterstützung dasteht.

STANDARD: Ein großer Trend ist auch, dass junge Menschen auf Tiktok Symptome zeigen, die sie dann mit psychischen Erkrankungen in Verbindung bringen. Kommen zu Ihnen auch Schülerinnen oder Schüler mit Selbstdiagnosen?

Haller: Das sehen wir tatsächlich. Die Jugendlichen erzählen dann von Checklisten aus dem Internet, die sie ausgefüllt haben. Die Diagnosen, die dabei herauskommen, sind häufig Depressionen, Autismus-Spektrum- oder Angststörungen, aber auch Borderline-Persönlichkeitsstörungen. So einfach funktioniert Diagnose aber nicht. Manche Symptome kommen ja bei unterschiedlichen Krankheitsbildern vor. Das Ritzen ist da ein gutes Beispiel. In erster Linie wird es mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung in Verbindung gebracht. Aber Ritzen kann auch bei Essstörungen, bei Traumatisierungen, bei Depressionen oder auch bei Zwangserkrankungen vorkommen. Eine genaue Diagnose kann immer nur mit professioneller Hilfe gestellt werden.

STANDARD: Parallel zum gezeigten Problem findet man oft Heilungsangebote dafür. Wie gehen die Jugendlichen damit um?

Haller: Das ist ein großes Thema. Viele Angebote versprechen schnelle Heilung, sogar mit Kräutermischungen oder Pillen. Das klingt natürlich verlockend für junge Menschen, denen es psychisch nicht gut geht. Aber oft steckt da reine Geldmacherei dahinter. Wir bemühen uns, die Jugendlichen da zu sensibilisieren.

STANDARD: Und wie genau läuft das ab?

Haller: Wir versuchen, den Jugendlichen zu vermitteln, wie sie erkennen, welche Informationen im Internet von seriösen Quellen kommen und welche nicht. Im Lehrplan sind die Themen Medienkompetenz, Gesundheitskompetenz und Resilienz fix verankert, sie werden aktiv unterrichtet, und alle Lehrenden sollen das Thema auch bei passender Gelegenheit in ihren Unterricht einfließen lassen. Wir wissen aber auch, dass da immer noch ein großer Aufholbedarf besteht.

In Österreich befinden sich ca. 70.000 Menschen in kassenfinanzierter psychotherapeutischer Behandlung. Benötigt würde etwa das Doppelte, um langes Warten zu vermeiden.
DER STANDARD

Wissen, Trendkrankheiten und Selbstdiagnose

Zigtausende Videos kursieren im Netz, in denen sich Jugendliche aufgrund gewisser "typischer" Symptome selbst mit psychischen Krankheiten diagnostizieren. Besonders häufig: Depressionen, Angststörungen, Autismus-Spektrum-Störung oder das Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom (ADHS). Junge Menschen, die ähnliche Verhaltensweisen von sich kennen, fühlen sich dadurch bestätigt. Die digitale Community erfüllt hier eine wichtige Funktion: Nutzerinnen und Nutzer stellen fest, dass sie mit ihren Themen nicht allein sind, die Inhalte der Videos sind niederschwellig und leicht verständlich.

Doch die auf Social Media verbreiteten Symptome sind oft stark vereinfachend oder stimmen nicht mit den Klassifikationskriterien der WHO überein. Nicht jede Schwierigkeit, sich zu konzentrieren, ist gleich ADHS. Trotzdem begrüßen viele Psychologinnen und Psychologen das Bewusstsein für psychische Erkrankungen, das so geschaffen wird. Es kann dadurch zu einem Umdenken von "Ich bin komisch" zu "Jetzt verstehe ich, warum das so ist" kommen. Wichtig ist aber, dass man sich bei andauernder Problematik unbedingt professionelle Hilfe holt. (Jasmin Altrock, Pia Kruckenhauser, 3.12.2022)