"New York Times"-Journalistinnen, die den Fall Harvey Weinstein recherchieren: Carey Mulligan (rechts) und Zoe Kazan hängen in "She Said" besonders oft am Telefon.

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Maria Schrader war in den letzten Jahren viel unterwegs zwischen Berlin und New York. Alles begann mit der Netflix-Serie "Unorthodox". Sie verschaffte sich damit Aufmerksamkeit bis nach Hollywood und drehte schließlich zum ersten Mal in Amerika. Das MeToo-Drama "She Said" kommt nun auch in Österreich und Deutschland ins Kino. Für die Interviews ist sie kurz in Berlin, sie empfängt in einem Hotel nicht weit vom Gendarmenmarkt, ganz in Schwarz gekleidet und voller Energie. Die Abnahme der schriftlichen Form des Gesprächs macht sie dann schon wieder von Amerika aus – sie steckt gerade mittendrin im Trubel der Oscar-Promotion. "She Said" gilt als aussichtsreich.

Universal Pictures

STANDARD: Wie weit reicht denn die Entstehungsgeschichte von "She Said" bei Ihnen zurück?

Schrader: Ich hab die Produzentin Dede Gardner (von Plan B, der Firma, an der Brad Pitt beteiligt ist, Anm.) über Zoom das erste Mal getroffen im Frühsommer 2020, da war "Unorthodox" gerade zwei Monate draußen. Dede saß irgendwo draußen vor einem Fitnessclub in Kalifornien. Es ging darum, mich mal kennenzulernen. Dann habe ich ihr meine anderen Filme geschickt und ihr erzählt, dass ich das Glück hatte, schon wieder drehen zu können.

STANDARD: Das war "Ich bin dein Mensch", der dann 2021 auf der vorwiegend virtuellen Berlinale lief.

Schrader: Genau, aber der spielte am Anfang von "She Said" noch keine Rolle. Die Produzentin hatte den Plan schon 2017 gefasst und die beiden Journalistinnen Megan Twohey und Jodi Kantor kontaktiert, noch bevor die ihr Buch geschrieben hatten. Dann hat Gardner sich Anfang 2021 wieder gemeldet und gesagt, es gibt jetzt ein Drehbuch, das wir dir anbieten.

STANDARD: Sie haben also ein Drehbuch vorgelegt bekommen. Es erzählt, wie die beiden Journalistinnen Frauen davon zu überzeugen versuchen, gegen den Filmproduzenten Harvey Weinstein auszusagen. Wegen sexueller Belästigung bis zur Vergewaltigung. Gleichzeitig müssen sie in ihrer Zeitung die Recherchen immer wieder erklären und verteidigen.

Schrader: Nachdem ich das Drehbuch von Rebecca Lenkiewicz aufgeschlagen und zweimal hintereinander gelesen hatte, war ich schon einigermaßen beeindruckt, dass diese Geschichte jetzt in meinem Schoß gelandet war. Auch eine Portion Überraschung war dabei und auch irgendwie so eine Erkenntnis, dass "She Said" im Inneren mit "Unorthodox" verwandt ist: Es geht um eine Frau, die mit ihrem Intimsten in Kollision gerät mit der Gesellschaft. Auch die Tatsache, dass ich maximal entfernt bin von Hollywood, entsprach dem Geist dieses Projekts.

STANDARD: Von New York sind Sie nicht so weit entfernt.

Schrader: Das nicht, in New York hatte ich als Schauspielerin und Regisseurin schon mehrfach gedreht. "I Was on Mars", "Meschugge", "Rosenstrasse" mit Margarethe von Trotta, auch "Unorthodox" habe ich da gedreht. Tatsächlich ist "She Said" nun überwiegend in New York entstanden.

STANDARD: Wie sehr haben die damaligen Reisebeschränkungen Sie behindert?

Schrader: Zuerst einmal mussten die Vorbereitungen hauptsächlich über Zoom stattfinden, und dann wurde es sogar schlimm, weil ich aus Deutschland nicht rauskonnte, denn das Konsulat war während der Pandemie geschlossen und bearbeitete nur Notfälle. Unser Drehbeginn war aber betoniert, weil die "New York Times" ja zum ersten Mal ihre Pforten für eine Filmproduktion geöffnet hat, die ersten beiden Augustwochen 2021 waren für uns reserviert. Das war auch nur möglich, weil die Reporter im Homeoffice waren, sie sollten im September wieder zurückkommen. Bei einem Projekt hat man normalerweise zwölf Wochen physische Vorbereitung, und ich kam erst fünf Wochen vorher nach New York. All diese Vorbereitungen habe ich von Berlin aus gemacht. Dann drehten wir die zwei Wochen in der "Times" und auch den überwiegenden Rest in New York. Dann noch so einen kleinen Global -nit-Part, Los Angeles, Venedig und London, in der zweiten Oktoberhälfte waren wir fertig. Und dann habe ich das Projekt mit nach Deutschland genommen, mit meinem Schnittmeister Hansjörg Weißbrich. Der Film ist knapp vor dem Ney York Film Festival, also vor der Premiere im September 2022, fertig geworden.

STANDARD: Konnten Sie bei dem Drehbuch noch eigene Akzente setzen?

Schrader: Die Entstehung dieses Drehbuch ist durchaus besonders, weil es vielstimmig ist. Die beiden Journalistinnen haben aktiv mitgestaltet und wurden auch immer wieder konsultiert, was die Details von Sprache angeht und wie unterschiedlich ihre Treffen mit all den Beteiligten abgelaufen sind. So etwas interessiert mich ja auch besonders. Wie findet so ein spontanes Treffen mit dem Chefredakteur statt, wie informell ist das? Auch die Personen, die sich Jodi und Megan anvertraut haben, die ja nun auch uns die Umsetzung ihrer Geschichten anvertraut haben, auch für die wurde das Drehbuch geöffnet. Da ging es um das richtige Wording, um ihr Einverständnis, wie ihre Erlebnisse erzählt werden. Das war schon eine besondere Form von Kollaboration. Viel Dialog war natürlich auch in den Händen von Anwälten, jede Dialogänderung musste abgesegnet werden. In dem Versuch, das so realistisch wie möglich zu machen, steckt eine unglaubliche Arbeit. Jede Newssendung, die man auf den Monitoren der NYT sieht, wurde einem bestimmten Datum zugeordnet. Da gibt es ganze Departments bei Universal, die das Material heranschaffen.

STANDARD: Sie haben also eine Erfahrung mit amerikanischem Filmemachen gemacht, mit einer anderen Dimension?

Schrader: Wenn man in den Newsroom der "Times" geht, diese Batterien an Monitoren, das muss natürlich stimmen. Sämtliche Displays sind hergestellt worden. Es ist ein Primärinteresse auch für die "Times" gewesen, dass das Porträt ihrer Arbeit so genau und realistisch wie möglich ist. Wenn man in das vollkommen leergefegte Gebäude der Redaktion kommt, das hatte damals ja einen Eindruck wie Pompeji. Da lagen zum Teil private Laptops, auf jedem Schreibtisch die physischen Zeitungen vom 13. März 2020. Alles, was essbar war, war von irgendwelchen Brigaden einmal weggeräumt worden, der Rest war immer noch da. Wir haben zum Teil diese Hinterlassenschaften auf den Tischen belassen, das konnten wir so benutzen. Das dann glaubwürdig zu bevölkern mit Hintergrunddarstellern bedeutete natürlich auch, sich nächtelang Statisten anzugucken und auszuwählen.

STANDARD: Viel Arbeit für Leute, die im Film nie ein Wort sagen.

Schrader: Ja, aber wenn man genau hinguckt, sieht man, dass sich diese Arbeit lohnt, die sind fantastisch. Man darf als Regisseur in Amerika übrigens nicht direkt mit Statisten sprechen, weil sie dadurch zu Kleindarstellern aufsteigen und viel mehr Geld verdienen würden. Ich bin es gewöhnt, immer mit allen zu reden. Alle im Bild sollen wissen, worum es in der Szene geht, was die Energie ist. Das musste ich durch ein Heer von Assistenten kommunizieren.

STANDARD: Mussten Sie sich überlegen, wie Sie mit einer gewissen Monotonie der Szenen umgehen? Es wird ja viel telefoniert, und Redaktionskonferenzen sind auch nicht gerade das Spannendste auf der Welt.

Schrader: Absolut. Ich finde das auf der einen Seite aufregend, eine Arbeit im Detail zu porträtieren. Da geht es erst mal um eine emotionale Verbindung, um solche Szenen aufregend zu machen. Ich weiß nicht, wie viele Telefonate wir im Film haben. Die versuche ich natürlich lebendig, unterschiedlich zu filmen. Da kann man gut von Personen ausgehen, auch die Räumlichkeiten abwechslungsreich machen, aber im Kern ist es nur spannend, wenn ich begreiflich mache, warum jedes Gespräch für die Protagonisten wichtig ist, was dieser spezielle Moment jetzt gerade bedeutet.

STANDARD: Harvey Weinstein taucht selbst auf, allerdings nur indirekt. Was war da das Prinzip?

Schrader: Die Beantwortung dieser Frage war erst einmal simpel. Wir erzählen aus der Perspektive der beiden Journalistinnen, der Film hat kein Mehrwissen. Nur die Zeuginnen, die sich bereiterklären, ihre Geschichten den beiden anzuvertrauen, werden zum Teil auch in Szenen privat behandelt. Wir sehen von Weinstein das, was Jodi und Megan miterlebt haben. Es gab Telefonkonferenzen, und es gab diesen unerwarteten Besuch in der Redaktion. Was nach der Erscheinung des Artikels uns alle bewegt hat, führt ja dann auch zu grundsätzlichen Fragen im künstlerischen Bereich: Wem gebührt welcher Raum im Film? Welche Aufnahme? Was ist Repräsentation? Das sind aufregende Fragestellungen. Es ist kein Film über Harvey Weinstein. Gleichzeitig ist er aber eine symbolische Figur geworden. Das reflektiert unseren Umgang mit seiner Präsenz im Film. Ich habe einen fantastischen Schauspieler gefunden, der sich sehr genau seine Körperlichkeit und seine Stimme angeeignet hat. Und gleichzeitig war es klar, ihn nie von vorne zu zeigen. Weil es eben nicht Harvey Weinstein ist, sondern eine Projektionsfläche.

STANDARD: Die beiden Ehemänner von Kantor und Twohey sind mustergültig solidarisch und halten ihnen voll den Rücken frei. Haben Sie das ein wenig feministisch idealisiert?

Schrader: Nein. Ich habe beide Ehemänner kennengelernt, beide haben selbst ernstzunehmende Berufe, einer ist ebenfalls Journalist bei "NYT", der andere im Buchwesen. Auch solche Männer existieren in unserer Welt, und sie sind eine große Bereicherung für den Film. Es ist für sie eine Selbstverständlichkeit, in heißen Zeiten – auch mein Leben hat ja solche Phasen – den Haushalt und Kinder zu übernehmen, ohne dass das ein Konflikt werden muss. Die Frauen haben eine Arbeit, die man auch als eine Berufung bezeichnen kann, sonst wären sie nicht dort, wo sie sind. Dass es für alle ein "juggling" ist ... was ist das deutsche Wort für "juggling"? Ich komm mir schon so albern vor ... Jonglieren, ah ja. Eine andere wichtige Männerfigur ist der Chefredakteur der "Times". Auch er bekleidet eine Machtposition und geht damit aber vollkommen anders um als Weinstein. Er ist ein Teamplayer. Auch betrachtet er Jodis und Megans Recherche nicht als eine weibliche Mission, sondern als ein für alle Menschen relevantes Thema.

STANDARD: Wie finden Sie bisher die Reaktionen?

Schrader: Wir sind bei allen Screenings auf große Begeisterung gestoßen. Ein paar männlichen Kritikern ist der Film zu wenig Thriller. Wo Frauen gerade das als Qualität erkennen, dass er auch aus dem Genre ausbricht. Ich sehe es ebenfalls als Gewinn für den Film, dass er sich Zeit für die Aussagen der Zeuginnen nimmt.

STANDARD: Männer nörgeln und sagen, Alan J. Pakula hat es in "All the President’s Men" – über die beiden Aufdecker des Watergate-Skandals – besser gemacht?

Schrader: Nein. Aber auch mir wurde der Film von der Produzentin so gepitcht: "All the Presidents Men", aber weiblich. Es gibt Parallelen, beide Teams decken größere Zusammenhänge auf, beide Geschichten hatten politische und gesellschaftliche Konsequenzen. Pakula zeigt Woodward und Bernstein als "lonely wolfs", allzeit bereit, von ihren persönlichen Lebensumstände erfahren wir nichts. Die Erzählung wurde eher verschmälert, als Kinohelden werden sie dadurch "bigger than life". Ich hingegen empfinde es als eine Riesenbereicherung, die private Seite von Megan und Jodi mitzuerzählen. Sie recherchieren nicht politische Korruption, sondern sexuelle Gewalt, persönlichste Geschichten von Menschen und über Einzelfälle hinaus patriarchale Strukturen. Es ist ein sehr intimes Thema und beschäftigt Jodi und Megan auch dann noch, wenn sie abends nach Hause kommen. Auch in meinem Umfeld gibt es kaum Frauen, die nicht zumindest Erfahrungen von Einschüchterung oder verbalem Sexismus gemacht hätten.

STANDARD: Muss man nicht davon ausgehen, dass es auch in Deutschland Figuren wie Harvey Weinstein gegeben hat? In kleinerem Maß? Sie müssen jetzt keine Namen nennen.

Schrader: Diese Art von monolithischer Macht, überhaupt die Strahlkraft von Hollywood ist in Deutschland nicht zu finden. Dass es aber auch hier Missbrauch und Machtbündelungen gibt, ist vollkommen klar. Niemand weiß, wie viele unveröffentlichte Geschichten es wahrscheinlich gibt. Das kann auch in Kleinkleckersdorf der Oberarzt eines Krankenhauses sein. Ich wünsche mir, dass der Film für Betroffene ermutigend ist, die Isolation des Schweigens zu verlassen. (INTERVIEW: Bert Rebhandl, 3.12.2022)