Vergangenes Wochenende gedachten in Peking hunderte Menschen der Opfer von Ürümqi. Aus stiller Andacht wurde lauter Protest.

Foto:AP / Ng Han Guan

Mit Menschen Kontakt aufzunehmen, die am vergangenen Wochenende an einem der Proteste in China teilgenommen haben, ist fast unmöglich. Man kenne schon jemanden, "aber es ist zu gefährlich", sagt eine Kontaktperson. "Ich finde den Mut toll, aber ich könnte das nicht", heißt es von anderen. "Ich habe noch ein chinesisches Telefon", sagt eine Europäerin, die bis vor kurzem in China gelebt hat. "Sogar wenn meine Freunde demonstriert haben, würden sie es mir nicht sagen. Zu gefährlich."

Wenn schon telefonieren so gefährlich ist, was bedeutet es dann, in so einem Umfeld und unvermummt zu demonstrieren? In fast allen chinesischen Metropolen geschah vergangenes Wochenende genau das. Natürlich, die meisten Chinesen und Chinesinnen des 1,4-Milliarden-Einwohner-Staates blieben einfach zu Hause. Doch es gibt immer mehr Leute, die ganz offensichtlich genug haben. Manche von ihnen versuchen, das Land zu verlassen, wenn sie denn können. Und andere verliehen ihrem Unmut, unter großen Gefahren, lautstark Ausdruck.

Verheerende Wohnhausbrand

Die Kette der Ereignisse, die zum öffentlichen Wutausbruch geführt hat, wurde schon oft nacherzählt. Da waren die Proteste der Arbeiter im größten iPhone-Werk der Welt. Da waren Proteste von Wanderarbeitern in Tibet. Da war der Mann mit dem Protestbanner gegen Präsident Xi Jinping auf der Pekinger Brücke. Schon im Einzelnen waren das bemerkenswerte Proteste, stellten aber keine Sensation dar: Anders als oft angenommen wird im autoritären China häufig demonstriert. Doch die Proteste sind zumeist lokal und thematisch begrenzt.

Doch dann war da der verheerende Wohnhausbrand in Ürümqi in Xinjiang, bei dem mindestens zehn Menschen starben, weil die Null-Covid-Maßnahmen die Rettungskette behinderten. Was nach dem Brand passierte, war anders. Aus Gedenkveranstaltungen für die Opfer wurden Orte des politischen Protests. Der Ärger der Versammelten richtete sich nicht gegen eine lokale Behörde, gegen ein Einzelunternehmen oder einen punktuellen Missstand. Sondern die Wut richtete sich gegen ganz oben, und zwar in ganz China.

"Freiheit oder Tod" hieß es da, und "Nieder mit Xi". Der autoritäre Präsident hat die Null-Covid-Politik zum Kern seines politischen Seins gemacht. Über Monate wuchs der Frust über Hundert-Tage-Lockdowns und rigide Quarantäne.

Es war im Herbst 2021, als die eingangs erwähnte Europäerin mitten in der Nacht von Sicherheitskräften abgeholt wurde. Sie war K2, war also in Kontakt mit jemandem, der Kontakt mit einem Covid-Infizierten hatte. Erst war um ihr Wohnhaus ein elektronischer Überwachungszaun gelegt worden. Dann klopfte es in der Nacht an der Tür. Erst nach drei Wochen war die Quarantäne vorbei. Nach dieser Erfahrung verließ die Unternehmerin nach knapp zehn Jahren China für immer.

Digitale Vernetzung

Diese Möglichkeit hat aber nur ein Bruchteil der Bevölkerung. Für fast alle anderen heißt es ertragen, sprich: Der QR-Code auf dem Handy muss grün sein, sonst kann man nicht am Leben teilnehmen. Die andere Seite der Techno-Dystopie: Genau die Digitalisierung ist es, die die Proteste erst möglich gemacht hat. Nach dem Brand in Ürümqi kamen die Zensoren nicht mehr mit Löschen nach. Über die sozialen Medien sah man die Videos und Bilder vom Feuer. Treffpunkte zum Gedenken wurden tausendfach geteilt.

Es sind vor allem junge Leute, die dann die roten Linien des Regimes durchbrachen. Der Mut, den sie dafür aufgebracht haben, der beeindruckt alle. Sogar jene, die die Proteste kritisch sehen, ziehen den Hut vor den jungen Leuten. Ob sie naiv sind, nicht wissen, was damals, 1989, passiert ist? Wohl kaum. Und was in Hongkong passiert ist, das haben sie quasi live miterlebt.

Das leere Blatt

Ähnlich wie in Hongkong waren auch diese Proteste ein Katz-und-Maus-Spiel. Dezentral organisiert, kämpfte man mit kreativen Mitteln, um die Zensur zu umgehen. An vielen Orten hielten Menschen ein leeres Blatt Papier in die Luft. Schnell verbreitete sich das A4-Papier weltweit als Symbol der Proteste.

Nie würde er mitmachen, wenn er selbst im Land wäre, gibt ein Mann aus Schanghai an. Und von seinen Freunden zu Hause mache auch niemand mit. Die seien ohnehin zu alt. Aber ganz ehrlich: Wenn sie jünger wären, würden sie es sich auch nicht trauen.

Der chinesische Staat hat ein hocheffizientes System der Kontrolle entwickelt. Er hat die Möglichkeit, mit scharfen Maßnahmen zu reagieren, macht es aber nicht immer. Das heißt, man ist immer im Ungewissen darüber, ob man bestraft wird oder nicht. Meistens muss der Staat daher gar nicht eingreifen. Das meiste erledigt die Selbstzensur. Hin und wieder Präsenz zeigen. Mal hier IDs kontrollieren, mal da einem Familienmitglied einen Besuch abstatten. So bekamen die Behörden auch die Proteste rasch in den Griff, durch exemplarische Bestrafungen und Massenkontrollen.

Jene Angst vor Repressalien reicht weit über die Grenzen Chinas hinaus. In einem Telefonat mit einem Gesprächspartner in Europa setzt kurz die Verbindung aus, vielleicht ein WLAN-Problem? "Was war das?", kommt es vom anderen Ende der Leitung. Die Frage, ob man abgehört wird, steht immer im Raum. Am Mittwoch veranstaltete die Freie Uni Berlin ad hoc eine Onlinediskussion zu den Protesten. Viele Teilnehmer waren als "anonym" angemeldet, eine Person mit chinesischem Akzent verwendete sogar einen Stimmenverzerrer.

Resignation bei Uiguren

Die einzige, die offen spricht, ist Mechbube Abla, eine Uigurin in Österreich. Sie bittet explizit darum, namentlich genannt zu werden. Ihre gesamte Familie ist seit 2017 im Lager in Xinjiang verschwunden. Sie plädiert dafür, dass die Selbstzensur aufhören muss: "Wir müssen da mutig herauskommen. Sonst erreichen wir nichts." Sie kennt eine Angehörige von Brandopfern in Ürümqi. Diese hat in den Medien vom Tod ihrer drei Schwestern und Mutter erfahren. Das Wohnhaus war mit Stahlbalken versperrt. "Wer macht so etwas?", zeigt sich Abla empört und doch resignierend. Nicht die Uiguren haben begonnen zu protestieren, die trauen sich das gar nicht, sondern Han-Chinesen. Die darauffolgenden landesweiten Proteste seien "ein Wunder". Aber protestiert wird nicht für Uiguren, sondern aus Angst um das eigene Leben.

Peking hat nun Covid-Lockerungen angekündigt. Das könnte die Bevölkerung besänftigen. Denn die große Masse kritisiert die Lockdowns, nicht Xi. Die jungen Stimmen gegen Xi werden von vielen gehört, aber es sind wenige. Die Masse will einfach ein normales Leben zurück, ohne QR-Codes, ohne Dauerquarantäne.

Die, die mehr wollen, die müssen mit harten Strafen und langfristigen Konsequenzen rechnen – und trotzdem haben es so viele gemacht. Ein Protestierender zitierte im japanischen TV ein chinesisches Sprichwort: Er fühle sich wie eine Heuschrecke, die versucht, einen Streitwagen zu stoppen. Er weiß, es ist zwecklos, aber er muss es tun. (Anna Sawerthal, 3.12.2022)