Marianne Schulze, Expertin für Nachhaltigkeit und Menschenrechte, schreibt in ihrem Gastkommentar über den Umgang mit Menschen mit Behinderungen in Österreich und was sich daran ändern muss.

Die ORF-Spendengala Licht ins Dunkel kritisch im Blick: eine Dokumentation der inklusiven Online-Plattform "Andererseits".
Screenshot: Andererseits.org

Wann haben Sie zuletzt einen Fehler gemacht? Und wann hatten Sie zuletzt die Möglichkeit, aus einem solchen bewusst zu lernen? Hatten Sie schon einmal den Eindruck, dass – zu Ihrem Allerbesten – verhindert wird, dass Sie einen Fehler machen?

Das Lernen aus Fehlern ist für viele Menschen mit Behinderungen stark eingeschränkt. Für sie ist es Alltag, dass man meint zu wissen, was für sie gut ist. Vor allem gibt es die verbreitete Haltung, Menschen mit Behinderungen gar nicht erst um ihre Meinung zu fragen, weil "so genau" müssen "die" vieles nicht wissen. Oder es wird "für sie" entschieden, weil es "zu komplex" ist.

Fehler machen

Zwischen der Unterstellung, dass etwas per se "zu komplex" ist, dem Mangel an Bereitwilligkeit und methodischem Wissen, die Komplexität adäquat zu entwirren, und der sicher sehr wohl beabsichtigten, aber dennoch komplett übergriffigen Tendenz, Dinge zu "ihrem Besten zu entscheiden", haben Menschen mit Behinderungen vor allem eines nicht: das Recht, Fehler zu machen. Die Möglichkeit wird den meisten Menschen mit Behinderungen im Ergebnis abgesprochen: Kontoüberziehungen werden nicht geduldet, zu spät heimkommen und auch Alkoholkonsum sind auch in "eigenen Wohnungen" oft verboten.

Ja, es gibt Menschen mit sehr starken Beeinträchtigungen, für die es wirklich schwierig ist, Entscheidungen zu treffen. Ja, es gibt Situationen, in denen es gut ist, wenn sich jemand dazwischenschaltet. Nur: Das gilt regelmäßig auch für jene 85 Prozent der Bevölkerung, die wie Psychologin Pat Deegan sagt, "chronisch normal" sind, die also keine Beeinträchtigung haben.

"Der Mitleid heischende Blick, der insbesondere zur wohltätigen Weihnachtszeit oft forciert wird, auch durch Formate wie Licht ins Dunkel, konterkariert die Wahrnehmung von selbstbestimmten Menschen."

Die Unmöglichkeit, einen Fehler zu machen, hat viel mit dem gängigen Bild von Menschen mit Behinderungen zu tun. Da dominiert nach wie vor die bemitleidenswerte Person, die, mit allerlei medizinischen Defiziten beschrieben, ihr Dasein "fristet". Dazwischen webt sich die Tendenz, den Schutz und die Behütung von Menschen mit Behinderungen auch dadurch zu gewährleisten, dass man voreilig weiß, was für "sie" gut ist.

Die zugeschriebene Hilflosigkeit, die Normalisierung von Abhängigkeit und auch die Allgegenwärtigkeit von Fremdbestimmung haben vielfältige Ursachen. Zuallererst: Es gibt kaum Berührungspunkte im Alltag, die einen selbstverständlichen Umgang mit Menschen mit Behinderungen ermöglichen.

Separate Bildungseinrichtungen, spezielle Wohnformen, eigene Beschäftigungsmöglichkeiten, oftmals Fahrten in eigenen Kleinbussen: Da gibt es de facto keine Möglichkeit zu lernen, wie man Selbstbestimmung unterstützen kann.

Gleichberechtigt sein

Der Mitleid heischende Blick, der insbesondere zur wohltätigen Weihnachtszeit oft forciert wird, auch durch Formate wie Licht ins Dunkel, konterkariert die Wahrnehmung von selbstbestimmten Menschen, die im Alltag – mit individueller Unterstützung – integriert sind und gleichberechtigt an der Gesellschaft teilhaben. Und die eben auch den einen oder anderen Fehler machen.

Die Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, der Österreich 2008 beigetreten ist, sieht die Verwirklichung von Menschenrechten für alle Menschen mit Behinderungen in sämtlichen Lebensbereichen vor. Vor allem aber sieht der Vertrag einen Paradigmenwechsel vor, wie Menschen mit Behinderungen in der Öffentlichkeit dargestellt werden.

Es gibt in Österreich einige regionale Initiativen, die die Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen zu einer Selbstverständlichkeit machen. Integrationsmodelle für den Arbeitsmarkt, Pilotprojekte zur individualisierten Unterstützung im Alltag, wie die "Persönliche Assistenz", und nunmehr auch ein Journalismus-Projekt von Menschen mit und ohne Behinderungen ("Andererseits").

Prominenter Platz

Der Alltag derzeit: Der Ausschluss von Menschen mit Behinderungen forciert nicht nur Isolation und Abhängigkeiten, es ist vielfach ein sehr direkter Weg zur Notwendigkeit finanzieller Unterstützung. In Zeiten von Pandemie und Inflation kommt es hier immer öfter zu dramatischen Notlagen, die nur durch private Spenden abgefedert werden können. Damit werden die darunterliegenden strukturellen Probleme offenbar, deren tiefgreifende Änderung überfällig ist. Denn die Exklusion von Menschen mit Behinderungen fügt sich in gesellschaftliche Verwerfungen, die auch durch wachsende gesellschaftspolitische Ungleichheiten gekennzeichnet sind.

In den Bestrebungen der Förderung von Nachhaltigkeit nimmt ebendiese Ungleichheit einen prominenten Platz ein. Neben Umweltschutz und Maßnahmen gegen den Klimanotstand rücken nun auch soziale Fragen und die Umsetzung von Menschenrechten in den Fokus. Jüngst hat die Europäische Union die Berichtspflichten für größere Unternehmen um substanzielle Aspekte der Nachhaltigkeit erweitert: Demnach müssen Betriebe neben ihren Umweltmaßnahmen nun auch ihren Beitrag zu Gleichbehandlung, Nichtdiskriminierung und damit Inklusion von Menschen mit Behinderungen transparent darlegen. Die bevorstehende Umsetzung der EU-Richtlinie zur Nachhaltigkeitsberichterstattung von Unternehmen (CSRD, Corporate Sustainability Reporting Directive) inkludiert Menschenrechte, jene zu Inklusion und Barrierefreiheit sollten in unser aller Interesse im Mittelpunkt stehen. (Marianne Schulze, 3.12.2022)