Senegals Teamchef Aliou Cissé glaubt, dass die Zeit reif ist für einen Weltmeister aus Afrika. Wobei die Engländer das ganz anders sehen. Sie wollen im Achtelfinale den Traum beenden.

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Senegals Teamchef Aliou Cissé schließt nichts mehr aus. "Es ist alles möglich. Ich bin überzeugt, dass eine afrikanische Mannschaft Weltmeister werden kann", sagt der 46-Jährige, der logischerweise den Senegal bevorzugen würde. Wobei der Weg ein steiniger ist, am Sonntag steht im Achtelfinale das Beisammensein mit England an. Die Europäer bekommen von Fachleuten die Favoritenrolle umgehängt, was wiederum dem Afrikaner Cissé völlig egal ist. Er ist seit 2015 im Amt, hat sein Land zur Afrikameisterschaft gecoacht. In Katar fehlt freilich der verletzte Superstar Sadio Mané. "Er ist das Symbol unseres Fußballs, aber wir sind noch enger zusammengerückt", sagt Kapitän Kalidou Koulibaly.

Extrem freundlich

Ein außergewöhnliches Beispiel für die Harmonie ist Linksverteidiger Ismail Jakobs. 2021 wurde der gebürtige Kölner mit Deutschland U21-Europameister. Jakobs machte in Katar unmissverständlich klar, dass der Senegal für ihn "eine Herzensangelegenheit" ist. Er wechselte den Verband, schloss sich der Heimat seines Vaters an. "Beim Senegal ist es noch mal etwas ganz anderes. Der Stellenwert der Nationalmannschaft ist enorm. Man bekommt ungemein viel Liebe von den Menschen", sagt Jakobs.

Der 23-Jährige musste zittern. Die WM-Nominierung in der Tasche, bereitete die Bürokratie Probleme, erst wenige Stunden vor dem Auftaktspiel gegen die Niederlande erhielt Jakobs die Genehmigung. Er selbst blieb cool: "Ich war immer positiv, dass ich spielen kann." Und so kam es. Beim 3:1 gegen Katar, seinem zweiten von nun drei Länderspielen, bereitete er das 2:0 vor. Anpassungsprobleme? "Nein. Es war einfach, reinzukommen, jeder behandelt mich freundlich."

Der Ex-Profi des 1. FC Köln spricht nicht einmal Französisch, beim aktuellen Klub AS Monaco nimmt er Unterrichtsstunden. "Langsam wird es", sagt Jakobs. Er verstehe alles, wirklich mitreden könne er nicht. Seine Interviews in Katar gibt er auf Englisch. In Monaco ist er meist nur Reservist und darüber selbstredend "nicht glücklich". Eine Rückkehr nach Deutschland bahnt sich an, Gladbach, Leverkusen und Frankfurt sind interessiert. "Aber jetzt bin ich bereit fürs Achtelfinale."

Kane in neuer Rolle

Die Engländer fühlen sich ebenfalls gewappnet. Die Gruppe B wurde souverän gewonnen, nur das 0:0 gegen die USA war kein Zungenschnalzer. In der nach unten und oben offenen Erlebniswertskala lag die Leistung im Minusbereich. Immerhin wurden in drei Partien neun Treffer erzielt. "Wonderkid" Jude Bellingham verzückt als junger Alleskönner, "Magic Marcus" Rashford brilliert als Torjäger. Aber was ist mit Harry Kane los? Der Kapitän hat noch nicht genetzt. "Ich denke nicht, dass wir jemals an Harry zweifeln sollten", sagt Mittelfeldspieler Declan Rice. Seine Worte werden in England freilich kaum gehört, die Nation diskutiert folgende Frage, die Auswahl ist unvollständig: Ist Kane wirklich fit? Wann schießt er endlich Tore?

Vor vier Jahren in Russland hatte Kane schon in der Vorrunde fünf Treffer erzielt. Diesmal stehen drei teils brillante Vorlagen zu Buche. Was viele Fans murren lässt, ist für seine Mitspieler keine Überraschung. "Er hat seine neue Rolle angenommen, in der er sich deutlich mehr einbringen und das Spiel zusammenführen möchte", sagt Rice. Aus dem klassischen "Neuner" ist quasi ein "falscher Zehner" geworden, der den ultimativen Pass spielt, die schnellen Außenstürmer einsetzt oder die maßgenaue Flanke schlägt.

Deshalb gibt sich Teammanager Gareth Southgate auch gänzlich unbesorgt. Hartnäckig halten sich die Spekulationen um Kanes Fitness. Nach dem Schlag auf den Knöchel im Spiel gegen den Iran ist Ex-Nationalspieler Gary Neville überzeugt: "Er schleppt was mit sich herum, wir wissen das." Kane sei zwar "ein Krieger", aber: "Ihm gehen fünf Prozent ab."

Der 29-jährige Kane selbst weiß wenig davon. "Mir geht es gut. Aber ich kenne den Rummel und den Krach, der kommen kann." Wobei er, der 51-mal für die Three Lions genetzt hat, eh auf einer Insel der Seligen lebt. Im Vergleich zum glamourösen David Beckham oder zum skandalträchtigen Wayne Rooney ist das Theater um den Tottenham-Stürmer ein Ponyhof. Der Boulevard kennt bei Kane Gnade. Er sagt: "Wir können Weltmeister werden." Cissé sagt das auch, meint aber den Senegal. 2002 erreichten die Westafrikaner das Viertelfinale. (Christian Hackl, 4.12.2022)

Technische Daten und mögliche Aufstellungen zur Fußball-WM in Katar am Sonntag:

Achtelfinale: England – Senegal (Al Khor, Al Bayt Stadium, 20.00 Uhr/live ORF 1, SR Ivan Barton/SAL)

England: 1 Pickford – 12 Trippier, 5 Stones, 6 Maguire, 3 Shaw – 22 Bellingham, 4 Rice – 17 Saka, 19 Mount, 11 Rashford – 9 Kane

Ersatz: 13 Pope, 23 Ramsdale – 2 Walker, 15 Dier, 16 Coady, 18 Alexander-Arnold, 7 Grealish, 8 Henderson, 14 Phillips, 20 Foden, 25 Maddison, 26 Gallagher, 10 Sterling, 24 Wilson

Es fehlt: 21 White (Abreise aus persönlichen Gründen)

Senegal: 16 E. Mendy – 21 Sabaly, 3 Koulibaly, 22 Diallo, 14 Jakobs – 26 P. Gueye, 6 N. Mendy, 15 Diatta – 13 Ndiaye, 9 Dia, 18 I. Sarr

Ersatz: 1 S. Dieng, 23 Gomis – 2 F. Mendy, 4 Cissé, 10 Moussa N'Diaye, 12 Ballo-Toure, 24 Name, 11 Ciss, 17 P.M. Sarr, 25 Mamadou N'Diaye, 7 Jackson, 19 Diedhiou, 20 B. Dieng

Es fehlt: 5 I. Gueye (gesperrt)

Fraglich: 8 Kouyate (Oberschenkel)