Mittwochmittag poppte in den Postfächern ausgewählter Journalistinnen und Journalisten Österreichs eine E-Mail aus dem Kanzleramt auf. Karl Nehammer, war darin zu lesen, lade "im Vorfeld von ein Jahr Bundeskanzler Karl Nehammer" zu einem "neuen Format" ein – und zwar gleich am folgenden Tag: Donnerstag, 13.30 Uhr.

Beim "Kanzlergespräch" waren Fotografen nicht erlaubt. Hier zu sehen: Nehammer (links, Mitte, rechts) in einem Spiegel.
Foto: Regine Hendrich

Am 6. Dezember 2021 war Nehammer angelobt worden, im Rahmen eines "Kanzlergesprächs" anlässlich des Jubiläums stehe er nun Rede und Antwort. Der Unterschied zu hierzulande nicht ungewöhnlichen "Hintergrundgesprächen" zwischen Politikern und Journalisten: Das geplante Gespräch finde "on the record" statt. Es könne also alles, was Nehammer sage, in Artikeln zitiert werden.

Der Job der Spindoktoren

Davor war im Kanzleramt lange diskutiert worden, wie Nehammer seinen Jahrestag begehen soll. Denn Jubiläen nutzen Medien zumeist für einen Rückblick, Bilanzen, ein Porträt oder Interview. Spindoktoren von Politikern betrachten es als ihre Aufgabe, solche Bilanzen zum Positiven zu beeinflussen und Interviews zum richtigen Zeitpunkt einzuhängen, sodass die Themenlage dem Interviewten zugutekommt.

Aus Sicht von Nehammers Strategen war es deshalb besonders ärgerlich, dass der Kanzler und ÖVP-Chef zum zweiten Mal in den U-Ausschuss geladen wurde, der sich seit Monaten mit den zahlreichen Affären der Volkspartei beschäftigt – just am Mittwoch vor seiner einjährigen Kanzlerschaft. Damit war ein mediales Thema für diese Woche gesetzt; und das nicht zur Freude des Kanzleramts.

Nehammers Idee? Oder Fleischmanns?

Nehammers Presseleute sollen den Vorschlag gemacht haben, man könne den heimischen Medien dennoch Interviews anbieten; möglichst vielen – kurze Slots, ein Termin nach dem anderen. Nehammer, ist zu hören, habe diese Idee jedoch nicht zugesagt; so kämen keine Gespräche zustande. Interviews gab der Kanzler zuletzt nur wenige. Er beschäftige sich lieber mit Themen als mit Journalisten, wird in seinem Umfeld erzählt. Nehammer selbst habe dann den Vorschlag gemacht, mehrere Medien und diese dafür zu einem langen Gesprächstermin einzuladen.

Unter Journalisten wird später eine weitere Erzählung diskutiert werden: Gerald Fleischmann, der frühere Kommunikationschef von Sebastian Kurz, den Nehammer gerade zum Chefkommunikator der ÖVP befördert hat, mischt nun auch wieder im Kanzleramt mit. Unter Kurz galt Fleischmann als "Mister Message-Control". War der Termin also ein erster Schritt in die Richtung, wieder verstärkt auf Medien Einfluss zu nehmen, sie gar kontrollieren zu wollen?

"Message-Control? Man kann das auch als professionelle Kommunikation betrachten. Das ist wie ein Fetisch, den Sie da mit Gerald Fleischmann haben", erklärt der Kanzler den Journalisten.
Foto: Regine Hendrich

Nachdem am Mittwoch die E-Mail mit der Einladung verschickt war, dauerte es exakt zwei Stunden, bis mehrere Journalisten den Termin auf Twitter thematisierten. Kritisiert wurde nicht das Format an sich, sondern die gewählte "Sperrfrist". Sperrfristen werden von Pressesprechern in der Regel gesetzt, damit Journalistinnen und Journalisten Zeit haben, sich vor Veröffentlichung mit einem Thema zu befassen – bevor dann alle Medien zeitgleich ihre Artikel publizieren.

Für das "Kanzlergespräch" lautete die Sperrfrist "Sonntag, 6 Uhr" – fast 65 Stunden nach dem Termin; was eine ungewöhnlich lange Zeitspanne ist. Erklären lässt sie sich wohl dadurch: Am Sonntag erscheinen in vielen Zeitungen die meistgelesenen Ausgaben, in denen Politiker – positiv – vorkommen wollen.

Sperrfrist vorverlegt!

Mittwochabend erreichte Medien aber die nächste E-Mail aus dem Kanzleramt: "Aufgrund mehrerer Rückmeldungen" sei die Sperrfrist nun vorverlegt – auf Freitag, 18 Uhr. Davor hatten die Chefredakteure mehrerer Medien bereits über die ungewöhnlichen Bedingungen diskutiert, um dem Kanzleramt ein Gespräch über neue Spielregeln für den Umgang mit Hintergrundgesprächen und Sperrfristen anzubieten. Ihr Schreiben wurde Donnerstagvormittag übermittelt.

Die Kerninhalte: Zu Pressegesprächen soll möglichst breit und jedenfalls nicht selektiv eingeladen werden; "absurde Sperrfristzeiten" sind nicht akzeptabel; "Regeln und Setting" für Mediengespräche müssen von und mit Journalisten gestaltet werden. "Wir wollen keine Message-Control. Die wollten wir nie, und die wird es mit uns auch in Zukunft nicht geben", schreiben namentlich elf Chefredakteurinnen und Chefredakteure – unter anderem Johannes Bruckenberger von der "Austria Presse Agentur", Walter Hämmerle von der "Wiener Zeitung", Hubert Patterer von der "Kleinen Zeitung", Christian Rainer vom "Profil" und Martin Kotynek, Chefredakteur des STANDARD.

Metternich und Kreisky

Donnerstag, kurz nach 13.30 Uhr, sitzen dann 18 Journalistinnen und Journalisten im warm geheizten Metternich-Zimmer des Kanzleramts. Auf den Tischen stehen ein paar Teller mit Weihnachtskeksen, auf dem Kaminsims Brötchen.

Das Metternich-Zimmer diente mehreren roten Kanzlern als Büro, auch Wolfgang Schüssel und Brigitte Bierlein saßen in dem lichtdurchfluteten Raum mit Blick auf den Volksgarten. Nun ist es ein Besprechungszimmer. Sein eigenes Büro ließ Nehammer – wie davor Sebastian Kurz – im Kreisky-Zimmer einrichten. Bruno Kreisky hatte das dunkel vertäfelte 70-Quadratmeter-Büro despektierlich "Zigarrenkistl" getauft. Dem aktuellen Kanzler aber gefällt es. Jemand, der ihn gut kennt, hat es kürzlich so formuliert: Nehammer, der gerade 50 wurde, habe das Gefühl, die Last des Amtes liege auf seinen Schultern – dazu passe der dunkle, schwere Raum.

Nehammer verspätet sich um ein paar Minuten – das gehört in der Politik zum guten Ton. Flankiert von seiner Sprecherin und seinem Sprecher nimmt er Platz und beugt sich über den Tisch, um gleich loszulegen. Seine Einleitung, eine "Standortbestimmung", wie er es nennt, dauert sieben Minuten. Danach lässt er sich fast eineinhalb Stunden lang befragen. Ein Überblick der besprochenen Inhalte:

  • Krisenoptimismus In seiner Einleitung will Nehammer eine klare "Message" verbreiten: Das Land brauche Zuversicht. Die Arbeitslosenquote sei im November so niedrig gewesen wie seit 15 Jahren nicht mehr. Österreich erlebe sogar ein leichtes Wirtschaftswachstum – und das in einer Zeit von Krisen, "die es in dieser Kumulation seit dem Zweiten Weltkrieg nicht gegeben hat", wie es der Kanzler formuliert. Prognosen sagen: Der Höhepunkt der Inflation dürfte überschritten sein – und die Gasspeicher sind voll. Zumindest diesen Winter.

  • Fossile Unabhängigkeit Derzeit seien "einige Gesetze in der Pipeline", die den Ausbau von erneuerbarer Energie beträfen. Es gehe um einen "Umbau von Wirtschaft und Industrie". Klima- und Umweltschutz sowie die Unabhängigkeit von fossiler Energie hält Nehammer für "das größte Zukunftsprojekt".

  • Defizit im Staatshaushalt Die hohen Staatsausgaben beunruhigen Nehammer auf Nachfrage nicht: "Jede Zeit erfordert die Maßnahmen, die sie braucht." Durch Investitionen müssten "Möglichkeiten geschaffen" und die Wirtschaft stabilisiert werden.

  • Transparenz Auf die Frage nach der schon lange ausstehenden Abschaffung des Amtsgeheimnisses durch ein Informationsfreiheitsgesetz bleibt Nehammer völlig unkonkret: Österreich müsse in puncto Transparenz besser werden, innerhalb der Koalition würden "weiterhin Verhandlungen" laufen.

  • Migration und Asyl "Die Migrationskrise ist für Österreich dramatisch", lässt Nehammer keinen Zweifel an seiner Haltung. Hauptverantwortlich dafür sei der fehlende europäische Außengrenzschutz. Bei dem Termin spricht er sich für ein gemeinsames "EU-Asylverfahren" aus. Das könne so aussehen: In Zentren an den Außengrenzen der EU wird die Bleibeberechtigung von Menschen festgestellt – und dann dementsprechend weiter verfahren. Gibt es keine Bleibeberechtigung, brauche es "rasche Rückführungen". Dafür wiederum müsse die EU Abkommen mit den Herkunftsländern der Ankommenden abschließen. Außerdem seien klare Regeln für Arbeitsmigration wichtig – auch hier verschließe er sich nicht der Diskussion über ein gesamteuropäisches Modell. Aktuell blockiert Österreich eine Erweiterung des Schengenraums, um Druck auf die EU auszuüben, den Außengrenzschutz zu verbessern.

  • Verhältnis zu Ungarn Ungarn sei "ein wichtiger Verbündeter" im Kampf gegen "irreguläre Migration". Seine Zusammenarbeit mit Ministerpräsident Viktor Orbán verteidigt Nehammer. Auch wenn Ungarn "sehr nationalistisch" vorgehe.
Nehammer und "sein Verbündeter", der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán, in Wien.
Foto: Heribert Corn
  • Zustand der ÖVP Die Volkspartei befinde sich "zweifelsfrei" in einer schwierigen Situation, gibt Nehammer zu. Die Obmannschaft von Kurz sei aber "differenziert zu sehen". Kurz habe aus der ÖVP wieder eine breite Volkspartei gemacht. Er verurteile, was Thomas Schmid, der frühere Generalsekretär im Finanzministerium, mutmaßlich getan habe. Doch grundsätzlich habe die ÖVP "kein systematisches Korruptionsproblem", dabei bleibt er. Nach allem, was Nehammer wisse, habe auch Kurz "kein Korruptionsproblem".

  • Interventionen "Vom Kindergartenplatz bis zum Arzttermin" werde in Österreich interveniert, sagt Nehammer. Das sei jedoch kein "ÖVP-Thema", sondern ein "Kulturthema". Denkbar sei für ihn die Schaffung eines "Compliance-Officers" für Regierungen. Darüber hinaus bleibt der Kanzler im Verteidigungsmodus: Die Politik müsse Ansprechpartner für "Bürgeranliegen" sein dürfen. Ihn würden bis heute zahlreiche "Interventionsanliegen" erreichen. "Die Betroffenheitspyramide in Österreich ist erstaunlich", merkt er zynisch an. Einem gesetzlichen Verbot von Diskriminierung aufgrund parteipolitischer Gesinnung stehe er offen gegenüber. Allerdings bloß deshalb, weil die ÖVP "unter Generalverdacht" stehe.

  • Gerald Fleischmann Fast zwanzig Minuten lang wird Nehammer wegen seiner Entscheidung gelöchert, dass er Fleischmann befördert hat. Gegen Fleischmann, der einer der engsten Vertrauten von Kurz war, wird in der Inseratenaffäre ermittelt. "Wenn Sie mich fragen, ist er beschuldigt, aber nicht schuld", sagt Nehammer. Kritik an der Besetzung perlt trotz mehrfacher Nachfrage an ihm ab. Er wolle durch die Neuaufstellung die Kommunikation der ÖVP professionalisieren, daran könne er nichts Schlimmes erkennen. "Das ist wie ein Fetisch, den Sie da mit Gerald Fleischmann haben", entfährt es ihm irgendwann. "Was bedeutet Message-Control überhaupt? Man kann das auch als professionelle Kommunikation betrachten", meint Nehammer.

Kurz nach Ende des "Kanzlergesprächs" erreicht die letzte E-Mail zum Thema das Postfach von Journalisten. Nehammer hatte zu Beginn des Gesprächs kurz angesprochen, dass er die zuständigen Ministerien beauftragt habe, ein neues Modell für den Heizkostenzuschuss zu entwickeln. Es soll den Bundesländern ermöglichen, die Förderung "deutlich auszuweiten". Im Kanzleramt ging offenbar die Befürchtung um, das könnte in der Hitze des Gefechts untergegangen sein – so wurde die Idee per Mail erläutert:

Das neue Heizkostenmodell soll nicht nur für niedrige Einkommen, sondern auch für "Familien und die Mittelschicht gelten". Für einen Haushalt bedeute das "zwischen 200 und 400 Euro" – je nach "Kriteriensetzung der Länder". Dafür nehme der Bund 500 Millionen Euro in die Hand. Darüber hinaus werde der Energiekostenzuschuss für Unternehmen verlängert und ausgeweitet. Beides soll noch vor Weihnachten vorgestellt werden.

Ob das "Kanzlergespräch" nun zu einem regelmäßigen Format wird? Sei noch nicht ganz klar, sagt Nehammers Sprecher am Telefon – Freitag, vor 18 Uhr. Vielleicht will das Kanzleramt erst noch die Berichterstattung darüber abwarten. (Katharina Mittelstaedt, 2.12.2022)