"Es gibt eine globale Krise des Flüchtlingsschutzes", sagt der Migrationsexperte Gerald Knaus im Gastkommentar. In vielen Ländern funktioniere der Rechtsstaat nicht. Österreich sei eine Ausnahme.

Gemeinsam gegen Migration: Die Allianz von Kanzler Karl Nehammer mit dem serbischen Präsidenten Aleksandar Vučić und Ungarns Premier Viktor Orbán sorgte innenpolitisch für laute Kritik.
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Stellen wir uns vor, die Demokratien Europas beschließen, sich in ihrer Flüchtlingspolitik an Österreich in den vier Jahren der Ära Kurz, von Anfang 2018 bis Ende 2021, zu orientieren. Was für ein Europa wäre das?

Als ich für mein neues Buch "Wir und die Flüchtlinge" die Zahlen in den jährlichen Berichten über Flucht und Asyl in der Welt des UN-Flüchtlingskommissariats UNHCR studierte, erlebte ich eine Überraschung. In Österreich erhielten von 2018 bis 2021 56.000 Flüchtlinge internationalen Schutz. Das waren durchschnittlich 1.500 positive Entscheidungen pro Jahr pro eine Million Einwohner. In der ganzen Welt lag in diesen Jahren nur ein Land vor Österreich: Griechenland. Allerdings zogen aus Griechenland etwa die Hälfte aller dort anerkannten Flüchtlinge nach ihrer Anerkennung nach Deutschland weiter. Hätte nun die EU, das Vereinigte Königreich, die Schweiz und Norwegen im Verhältnis zu ihrer Einwohnerzahl so vielen Menschen Flüchtlingsstatus erteilt wie Österreich in der Ära Kurz, wären dies in vier Jahren 3,3 Millionen Flüchtlinge gewesen.

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Globales Vorbild

Laut UNHCR gab es Anfang 2018 weltweit 19,9 Millionen Flüchtlinge unter seinem Mandat. Ende 2021 waren es 21,3 Millionen. Somit wuchs die Zahl aller Flüchtlinge in der Welt in vier Jahren um 1,4 Millionen. Hätten sich Europas Demokratien so verhalten wie Österreich von 2018 bis 2021, dann hätten diese in vier Jahren mehr als doppelt so viele Flüchtlinge aufgenommen. Hier ist Österreich globales Vorbild.

Wie kam es dazu? In Österreich funktioniert der Rechtsstaat. Gültige Gesetze und Konventionen wurden angewandt. Wer das Land erreichte, wurde so behandelt wie gesetzlich vorgesehen.

Das ist angesichts der Entwicklungen anderswo tatsächlich bemerkenswert. Denn die zweite Antwort ist beunruhigend: In anderen EU-Staaten funktionierte der Rechtsstaat nicht. Weltweit wird wenigen Flüchtlingen Schutz gewährt. Es gibt eine globale Krise des Flüchtlingsschutzes.

Daraus ergeben sich für die österreichische Politik der Zukunft konkrete Folgen:

· Erstens: Es ist in unserem Interesse, dass sich alle EU-Länder, nicht nur einige wenige, an gültiges Asylrecht halten. Österreich teilt dieses Interesse mit Deutschland, Frankreich, der Schweiz und den Beneluxländern. Ungarn, in dem praktisch niemand einen Asylantrag stellen kann, handelt auch auf Kosten Österreichs.

· Zweitens: Die Strategie der "Schließung der Balkanroute" ist krachend gescheitert. Alle Länder zwischen der Ägäis und dem Burgenland winken irreguläre Migranten durch. Selbst dort, wo mit brutaler Gewalt (wie an Kroatiens Grenze zu Bosnien) und mit Zäunen und illegalen Pushbacks (wie in Ungarn) Asylsuchende kurzfristig gestoppt werden, kommen diese letztlich doch weiter. Die Zahlen zeigen klar: Griechenland entleerte sich.

· Drittens: Würde Österreich sich so verhalten wie die Schweiz, dann gäbe es hier immer noch viele, aber doch sehr viel weniger Asylanträge. 2022 waren es in Österreich mehr als 100.000, in der Schweiz 22.000. Die Schweiz lässt die, die keinen Asylantrag stellen wollen, in andere Länder weiterreisen. Dabei ist sie nicht unsolidarisch: Pro Kopf nimmt die Schweiz 2022 mehr Anträge entgegen als Deutschland. Sie verhält sich pragmatisch. Das sollte auch Österreich tun.

· Viertens: Wenn alle Westbalkanländer ihre Grenzkontrollen aussetzen und Schengen beitreten würden, würde das Österreichs Asylzahlen kaum belasten. Da es dem Frieden auf dem Balkan dienen würde, unsichtbare Grenzen zu haben, ist das sogar im Interesse Wiens.

· Fünftens: Die entscheidende Außengrenze für Österreich lag nie auf dem Balkan. Sie liegt im Mittelmeer und an der EU-Grenze zur Türkei. Hat Österreich daher ein Interesse an der heutigen Gewalt an diesen Außengrenzen, an "hässlichen Bildern" in der Ägäis und am Evros, auch um den Preis der Menschenrechts-, Kinderrechts- und Flüchtlingskonvention? Rechtlich und moralisch ist die Antwort klar: Als Rechtsstaat in der Mitte Europas hat Österreich ein Interesse daran, dass Gesetze in der EU durchgesetzt werden und dass die Menschenwürde auch an Grenzen der EU unantastbar bleibt.

Gemeinsames Interesse

Doch um Griechenland oder Polen davon zu überzeugen, braucht Österreich konkrete Vorschläge für die humane Kontrolle irregulärer Migration an diesen Grenzen, nur ohne die Verletzung von Grundrechten. Athen und Wien hätten damit ein gemeinsames Interesse an Abkommen wie der EU-Türkei-Erklärung, in der Ägäis und anderswo im Mittelmeer.

Im deutschen Koalitionsvertrag von 2021 steht dazu: "Wir werden irreguläre Migration reduzieren und reguläre Migration ermöglichen." Der Text verspricht die "illegalen Zurückweisungen und das Leid an den Außengrenzen" der EU zu beenden. Er fordert: "Asylverfahren müssen fair, zügig und rechtssicher ablaufen. Er erklärt: "Wir starten eine Rückführungsoffensive, um Ausreisen konsequenter umzusetzen." Und verspricht: "Wir wollen neue praxistaugliche und partnerschaftliche Vereinbarungen mit wesentlichen Herkunftsländern unter Beachtung menschenrechtlicher Standards schließen. Diese Vereinbarungen sollen ein Gesamtkonzept umfassen, wie zum Beispiel den Ausbau von wirtschaftlicher Zusammenarbeit, Technologie-Transfer, Visa-Erleichterungen, Qualifizierungsmaßnahmen für den deutschen Arbeitsmarkt, Jobbörsen und die Zusammenarbeit bei der Rückkehr abgelehnter Asylsuchender."

Natürliche Verbündete

Nicht Budapest, sondern Berlin ist der natürliche Verbündete Wiens. Österreich teilt mit Deutschland auch ein Interesse an legaler Arbeitsmigration in einen angespannten Arbeitsmarkt. Österreich hat ein Eigeninteresse sowohl an humaner Kontrolle irregulärer Migration als auch am Primat des Rechts in der EU. Es würde so einen Beitrag zur Erhaltung der Flüchtlingskonvention leisten. Und ein Vorbild bleiben: als Land, dem an praktischen Lösungen unter Bewahrung grundlegender Werte gelegen ist. (Gerald Knaus, 5.12.2022)