Was man Karl Nehammer hoch anrechnen kann: Er hat sich dem allgemein verbreiteten und von seinem Vorgänger Sebastian Kurz zelebrierten Drang zur Inszenierung weitgehend entzogen. Er hat der Message-Control entsagt, er hat die Medien in Ruhe gelassen, fast ein bisschen zu sehr. Man merkt: Er schätzt sie nicht. Und dann das: Nach einem Jahr Kanzlerschaft bestellt er Gerald Fleischmann, Medienfuzzi von Kurz, zum Kommunikationschef.

Sie erfinden das "Kanzlergespräch". Anstatt Interviews zu geben, lädt man eine exklusive Runde von Journalistinnen und Journalisten vor. Das scheiterte im ersten Anlauf am Widerspruch der Medien: Die vorgegebene Sperrfrist mit einer 65-stündigen Verzögerung war absurd, die Liste der Gäste zu exklusiv. Es kann nicht sein, dass der Kanzler entscheidet, was wann und wo erscheint.

Die drohende Wiederkehr der Message-Control schreckte alle auf. Auf Initiative des Vereins der Chefredakteure wird jetzt mit dem Kanzleramt an transparenten Spielregeln für Sperrfristen und Einladungen zu Pressegesprächen gearbeitet.

Was man Nehammer mit aller Schärfe vorwerfen muss: Er tut nichts, um die ÖVP und das Land aus dem Korruptionssumpf herauszuführen.
Foto: IMAGO/ SEPA.Media /Martin Juen

In der Reflexion über dieses erste Kanzlergespräch befassten sich die Medien dann auch intensiver mit den Umständen des Termins als mit seinen Inhalten. Die Botschaft des Kanzlers: Er habe alles im Griff, die Regierung habe sich bewährt. Dieses Selbstlob trugen kaum welche der Medien so weiter. Auch die Öffentlichkeit scheint das anders zu sehen: In Umfragen ist die ÖVP vom ersten auf den dritten Platz gerutscht. Nehammer hat seinen Anteil daran.

In der Verwaltung der multiplen Krisen scheint der Kanzler ein Getriebener zu sein, immer einen Schritt hinterher. Die Regierung wirft mit Geld um sich, als gäbe es kein Morgen. Viele der Maßnahmen kommen schnell, das ist positiv, vieles ist sozial nicht treffsicher. Für kommende Regierungen und die nächste Generation wird diese Großzügigkeit ein Problem.

Fehlende Maßnahmen

Dass in der Koalition knapp zwei Jahre vor der Wahl vieles stockt, ist kein gutes Zeichen: Die Reform des Arbeitslosengeldes ist gescheitert. Vielleicht besser so. Dass die Abschaffung der Maklergebühren für Wohnungssuchende oder das Verbot neuer Gasthermen zu scheitern droht, liegt an Widerständen in der ÖVP. Damit werden Maßnahmen blockiert, die im Kleinen das Leben erleichtern und im Großen den Klimaschutz vorantreiben sollen. Wichtige Ziele werden dem Lobbyismus geopfert.

Was man Nehammer mit aller Schärfe vorwerfen muss: Er tut nichts, um die ÖVP und das Land aus dem Korruptionssumpf herauszuführen. Maßnahmen wie die Abschaffung der Amtsverschwiegenheit, die Schaffung eines Informationsfreiheitsgesetzes oder die Verschärfung des Korruptionsstrafrechts werden mit fadenscheinigen Argumenten blockiert. Die ÖVP stellt fragwürdige Partikularinteressen über das Interesse des Gemeinwohls. Dass ausgerechnet die ÖVP, die an anderer Stelle so viel Wert auf Leistung und die Selbstständigkeit des Individuums legt, die Vorstellung mündiger Bürger nicht erträgt, ist ein Widerspruch, den Nehammer nicht erklären kann. Wenn es ihm nicht gelingt, die ÖVP aus dem Standesdünkel und dem Verharren in überholten Denkmustern zu emanzipieren, arbeitet er nicht nur am Ende seiner Kanzlerschaft, sondern auch an der Bagatellisierung der Volkspartei. (Michael Völker, 5.12.2022)