Die sexuellen Übergriffe sollen zumindest zwischen 2004 und 2019 stattgefunden haben. Die Lehrkraft soll laut dem Bericht "mindestens 40 Kinder auch unter Einsatz von K.-o.-Tropfen missbraucht" haben.

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Es handelt sich um einen der größten Missbrauchsfälle, die in den vergangenen Jahren in Wien bekannt geworden sind. Ein Lehrer an einer Wiener Sportmittelschule, der auch als Sporttrainer und Feriencamp-Betreuer tätig war, soll zahlreiche Schüler sexuell missbraucht sowie kinderpornografisches Material angefertigt haben. Die Taten sollen zumindest zwischen 2004 und 2019 stattgefunden haben. Im Mai 2019, nach einer Missbrauchsanzeige und einer darauffolgenden Hausdurchsuchung, beging der Pädagoge Suizid. Nun liegt der vorläufige Endbericht einer Untersuchungskommission vor: Die Lehrkraft soll demnach "mindestens 40 Kinder auch unter Einsatz von K.-o.-Tropfen missbraucht" haben.

Die Kommission wurde im Mai 2021 von der Wiener Bildungsdirektion eingerichtet, um den Fall zu untersuchen und um künftigen möglichen Missbrauchsfällen präventiv entgegenzuwirken. Dem Gremium gehörten Personen der Bildungsdirektion, der Kinder- und Jugendanwaltschaft Wien sowie der Kinder- und Jugendhilfe an.

Verheerendes Fazit

Das Fazit des 30-seitigen Berichts, der dem STANDARD vorliegt, ist verheerend: Demnach habe es ein "Systemversagen auf allen beteiligten Ebenen" gegeben. Das hat dem Pädagogen ermöglicht, die sexuellen Übergriffe über Jahrzehnte durchzuführen. Kritisiert wird der Schulstandort, die Bildungsdirektion selbst sowie die Zusammenarbeit mit den ermittelnden Behörden – "welche zusätzlich durch die bestehende rechtliche Situation (keine Akteneinsicht der Bildungsdirektion) erschwert wurde".

Laut Bericht ist "die Existenz von 40 Opfern belegt": Durch die Ermittlungen der Polizei wurden 25 durchwegs männliche Opfer identifiziert und im Oktober 2019 vom Landeskriminalamt auch kontaktiert. Weitere 15 Opfer seien mit Berufung auf die Staatsanwaltschaft auf sichergestellten Fotos und Videos zu sehen. Sie konnten bisher aber nicht identifiziert werden.

Wiens Bildungsdirektor Heinrich Himmer sprach bei der Präsentation des Berichts am Montagnachmittag von einer "schonungslosen Aufarbeitung". Die betroffenen Opfer seien der Bildungsdirektion namentlich nicht bekannt.

Gemeinsames Duschen mit Schülern

Die Kommission befragte ehemalige Schülerinnen und Schüler, Eltern, Schulleitungen, externe Personen sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bildungsdirektion. So soll es laut Bericht häufig vorgekommen sein, "dass Schüler auf dem Schoß des Lehrers saßen und dieser die Schüler streichelte". Dem ehemaligen Direktor ist das einmal aufgefallen: "Er gab an, dies der Lehrkraft damals untersagt zu haben."

Der Pädagoge soll in der Schule nach dem Sportunterricht auch gemeinsam mit Schülern geduscht haben. "Der Lehrer fertigte in der Dusche Fotos von den Kindern an und ermutigte die Kinder, sich gegenseitig zu fotografieren." Ein Fotobuch mit diesen und anderen Fotos soll an Schüler und Eltern am Ende der Schulzeit gemeinsam mit fünf Daten-CDs ausgeteilt worden sein. Das Fotobuch aus dem Jahr 2012 soll der damals zuständige und bereits pensionierte Direktor im Rahmen eines Sportfestes durchgeblättert haben. Das zeigt ein Foto, das auch der Kommission vorliegt. Der Ex-Direktor sagte in Befragungen aber aus, dass ihm die Fotos und das Fotobuch nicht bekannt gewesen seien.

Beliebtester Lehrer an der Schule

Nach Aussagen aller durch die Kommission befragten Personen sei der mutmaßliche Täter der beliebteste Lehrer an der Schule gewesen. Er "nutzte offensichtlich seine gesamte Energie, um sich unersetzbar zu machen und in weiterer Folge unbemerkt die ihm anvertrauten Schüler missbrauchen zu können". So bot er in privaten Räumen auch Nachhilfestunden an, wo es dann zu Übergriffen kam.

Sieben Anzeigen durch die Kommission

Die Kommission verfasste auch insgesamt sieben Anzeigen an die Staatsanwaltschaft. So wurde der ehemalige Direktor wegen des möglichen Wissens um das Fotobuch angezeigt, das er selbst bestreitet. Eine weitere Anzeige betraf den durch eine ehemalige Schülerin geäußerten Vorwurf, wonach der neue Schuldirektor kurz vor dem Suizid der Lehrkraft von den pädosexuellen Neigungen informiert gewesen sein muss.

Weitere Anzeigen drehen sich um Schulveranstaltungen: So soll ein Schüler bei einer Sportwoche 2018/19 aufgrund von Heimweh im Zimmer des Lehrers übernachtet haben. Andere Lehrkräfte bestreiten, davon gewusst zu haben. Ein ehemaliger Schüler gab zudem an, dass es bei einer Lesenacht im Turnsaal der Schule zu einem Übergriff gekommen sei. Der Ex-Direktor bestritt, dass die Lesenacht von der Lehrkraft alleine durchgeführt wurde.

Laut Kommission lösten alle bisher eingereichten Sachverhaltsdarstellungen keine Ermittlungen aus, "da laut Staatsanwaltschaft jeweils kein Anfangsverdacht bestand". Das bestätigte am Montag auch Bildungsdirektor Himmer. Dass der Missbrauch so lange unter dem unter dem Radar der Bildungsdirektion blieb, liege, so Himmer in der "ZiB 2" von Montagabend, auch an Hemmungen, offen über das Thema zu sprechen.

Noch im Mai behauptete die Bildungsdirektion Wien, dass es ausschließlich außerhalb der Schule zu Übergriffen gekommen sei. Das begründete Himmer damit, dass die Ermittlungsbehörden die Informationen damals so weitergegeben hätten. Es habe zu dem Zeitpunkt keine Hinweise auf Übergriffe an den Schulen gegeben, erklärte er in der "ZiB 2".

Keine Ermittlungen gegen langjährige Bekannte des Sportlehrers

Offen bleiben die Rollen von zwei langjährigen Bekannten des Sportlehrers. Diese hatten in unterschiedlicher Intensität mit dem Sportlehrer zu tun. In einem Fall erfolgte im November 2018 eine Meldung an die Kinder- und Jugendanwaltschaft: Einer der Bekannten sowie der Sportlehrer selbst wurden als Personen geführt, "die sich Kindern in einem Sportverband auf unangebrachte Weise genähert hätten". Einige Jahre zuvor gab es gegen diesen Bekannten, der einst auch Lehrer war, Ermittlungen wegen eines Verdachtsfalls des sexuellen Übergriffs im Sportunterricht. "Es konnten der Lehrkraft aber keine Straftaten nachgewiesen werden", heißt es im Bericht.

Irritierend ist, dass der Kommission die Weiterleitung der Dokumentation rund um die Meldung im Basketball-Verein im Jahr 2018 von der zuständigen Kinder- und Jugendanwältin verweigert wurde – mit Verweis auf den Datenschutz und die Pflicht zur Verschwiegenheit. Bekannt wurde aber, dass mit diesem Bekannten – unter Beisein der Kinder- und Jugendanwaltschaft – im Dezember 2018 eine Vereinbarung getroffen wurde: Er sollte unter anderem seine "Hilfsdienste" beim Umziehen in der Garderobe einstellen, sich Burschen körperlich nicht mehr nähern oder keine Kinder unter 14 Jahren trainieren.

Die beiden Bekannten des Sportlehrers wurden von Opferanwältin Herta Bauer wegen des Verdachts auf sexuellen Missbrauch von Unmündigen sowie Missbrauch eines Autoritätsverhältnisses angezeigt. Laut Staatsanwaltschaft war aber kein Anfangsverdacht gegeben: Die aktuelle Verdachtslage reiche nicht für ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren aus, hieß es Anfang Oktober. Beide Personen erschienen übrigens freiwillig vor der Kommission: Sie stritten jegliche Kenntnisse über die Übergriffe ihres Bekannten sowie eine Beteiligung ab. Es gilt die Unschuldsvermutung.

Pädagoge und Bekannter auch an Volksschule tätig

Im Laufe der Untersuchung wurde laut Kommission zudem bekannt, dass der Mittelschullehrer auch an einer benachbarten Volksschule im Rahmen eines schulübergreifenden Projekts tätig war – für zwei Sportstunden pro Woche in einer Klasse, im Team mit dem zuständigen Klassenlehrer. Hinweise auf Übergriffe gebe es in diesem Zusammenhang aber derzeit keine. Laut Bildungsdirektor Himmer werde die Bildungsdirektion allen Schülerinnen und Schülern, die betroffen sein könnten, einen Informationsbrief schicken, in dem auch Kontaktadressen angeführt sind.

Zumindest bemerkenswert ist, dass auch einer der beiden Bekannten des Sportlehrers in dieser Volksschule tätig war: Er hat laut Eigenangaben vor der Kommission im Jahr 2017 an Freitagnachmittagen als Trainer eine Basketballgruppe der Volksschule allein betreut.

Mehrere Empfehlungen

Die Kommission formulierte auch mehrere Empfehlungen: So soll unter anderem als Präventionsmaßnahme an allen Wiener Schulen ein Kinderschutzkonzept verpflichtend werden. In der Bildungsdirektion soll eine "Kompetenzstelle Kinderschutz" eingerichtet werden. Laut Himmer ist eine Umsetzung bis Ende dieses Schuljahrs geplant.

Die interne Meldekette bei der Bildungsdirektion müsse verbessert werden, das gelte auch für die Zusammenarbeit mit den ermittelnden Behörden. Himmer sagte, dass als Konsequenz aus diesem Fall mit dem Landeskriminalamt (LKA) Wien bereits eine verpflichtende Meldekette festgelegt wurde. Laut Himmer hat die Bildungsdirektion erst im Herbst 2019 von den konkreten Vorwürfen gegen den Pädagogen erfahren. Dass der Direktor der Schule, der mit dem LKA in Kontakt stand, die Bildungsdirektion nicht bereits im Mai 2019 konkret informiert habe, kann Himmer "nicht nachvollziehen". Das sei "kein normaler Vorgang" gewesen.

Es braucht laut Kommissionsbericht zudem einen kinderrechtlich adäquaten Umgang mit Foto- und Filmmaterial an Schulen. Zudem wird empfohlen, die dreijährige Verjährungsfrist bei Dienstpflichtverletzungen für pragmatisierte Lehrkräfte zu streichen – "um ein mutmaßliches Wegsehen einer verantwortlichen Person disziplinarrechtlich ahnden zu können". (David Krutzler, red, 5.12.2022)