Im Gastblog schreibt Olena Levitina über Vereinnahmung von ukrainischer Kunst durch Russland und die Veränderung der Rolle von Kultur seit Beginn des Krieges.

Man möchte meinen, dass Kunst apolitisch sei. Das ist aber unmöglich, weil Kunst nicht isoliert in einem Vakuum existiert, sondern Bestandteil des Lebens ist, in dem Politik eine wesentliche Rolle spielt. Kunst ist sozial, es ist eine Ausdrucksform, eine Reaktion auf die Außenwelt. Kunst wird oft auch für politische, besonders für außenpolitische Ziele benutzt. Diese Art der politischen Instrumentalisierung von Kultur nennt man kulturelle Diplomatie.

"Biest geht spazieren" von Marija Prymatschenko, einer ukrainischen naiven Künstlerin und Ikone der ukrainischen Identität.
Foto: Olena Levitina

Kulturelle Diplomatie

Prof. David Clarke bestimmt kulturelle Diplomatie als "Bereich der Politik, in welchem Staaten versuchen, eigene kulturelle Ressourcen zu mobilisieren, um außenpolitische Ziele zu erreichen". Dieser Begriff ist eng mit "Soft Power" verbunden.

Soft Power ist eine Form von Machtausübung, bei der politische Ziele mithilfe von kulturellem und ideologischem Einfluss erreicht werden. Im Gegensatz zu Hard Power werden keine ökonomische und militärische Ressourcen eingesetzt. Heutzutage behandeln viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler den Begriff Soft Power aus der Perspektive, "das kulturelle Potenzial in Bezug auf internationale Politik zu konzeptualisieren".

Kulturelle Diplomatie bedeutet nicht unbedingt etwas Schlechtes, da verschiedene kulturelle Projekte dazu dienen können, etwas Neues zu lernen oder das Weltbild zu erweitern. Beispiele dafür sind der jährliche Ukrainische Ball in Wien und die österreichischen Filmwochen in Kyjiw, oder auch das "Moskau-Dorf" am Weihnachtsdorf am Campus der Universität Wien in 2021. Auf diesem russischen Weihnachtsmarkt in Wien konnte man beispielsweise Borschtsch bestellen. Diese traditionelle Rote Rüben Suppe, deren ukrainische Zubereitung nach einem Konflikt zwischen Russland und der Ukraine zum Unesco-Kulturerbe erklärt wurde, enthielt auf diesem Markt jedoch keinen Verweis auf die Ukraine.

An dieser Stelle beginnt die Problematik der kulturellen Diplomatie Russlands, welche sich Soft Power gerne bedient und diese Macht oft missbraucht. Das Problem liegt darin, dass viele kulturelle Güter – sei es traditionelles Essen, wie Borschtsch, Literatur, Kunst – seitens Russland nicht als authentisch ukrainisch, belarussisch, georgisch, usw. präsentiert, sondern als gemeinsames Kulturerbe des großen russischsprachigen Raums dargestellt werden. So wird die ukrainische Kultur durch eine russische Perspektive wahrgenommen.

Ist russische Avantgarde russisch?

So skurril es klingen mag, das Schicksal des ukrainischen Malers Kasymyr Malewytsch war in diesem Sinne dem des Borschtschs ähnlich. Malewytsch war ein Maler, Vertreter der Avantgarde und Erfinder vom Suprematismus. Er ist auch der Autor des berühmten Bildes "Das Schwarze Quadrat auf weißem Grund", das zu einem Meilenstein der Moderne geworden ist. Kasymyr Malewytsch, in Kyjiw geboren, hat sich auf offiziellen Dokumenten als Ukrainer bezeichnet. Er wird aber trotzdem immer noch als russischer Maler und Hauptvertreter der russischen Avantgarde bezeichnet.

Zurzeit gibt es im Albertina-Museum in Wien im Rahmen der Ausstellung "Monet bis Picasso" einen Abschnitt, der "Avantgarde in Russland" heißt. In dem Raum sind unter anderem Kunstwerke des Ukrainers Malewytsch und des in Belarus geborenen Künstlers Chagall zu sehen. Wenn man die Bildbeschreibung liest, bekommt man keine Information zu der nationalen Identität dieser Künstler, außer dass der eine in Kyjiw und der andere bei Witebsk geboren wurde. Sogar der Name von Malewytsch ist im Museum als "Kasimir Malewitsch" geschrieben, was eigentlich die russische Übersetzung des ukrainischen Namens des Künstlers ist.

Der Kunsthistoriker Jean Claude Marcadé sagte in einem Interview im 2018 diesbezüglich: "Seit mehreren Jahrzehnten kämpfe ich gegen die russische Kulturaggression, die sich derzeit aufgrund der politischen Situation verschärft. Die aktive Russifizierung geht weiter. In allen meinen Büchern und Artikeln verwende ich den Begriff "ukrainisch". Russen verwenden es nicht und sagen zum Beispiel "in Kyjiw geboren" oder verweisen darauf, dass Malewytsch Pole gewesen sei.

Malewytsch wird als russischer Künstler (oder als in Kyjiw geborener russischer Künstler) bezeichnet, obwohl er Ukrainisch gesprochen hat, von den ukrainischen Motiven beeinflusst wurde und sogar Bilder zum Thema Holodomor (menschengemachte Hungersnot in der Sowjetukraine) gemacht hat. Diese Arbeit heißt "Wo eine Sichel und ein Hammer sind, gibt es Tod und Hunger".

Über seine Heimatstadt Kyjiw schrieb Malewytsch: "Ich habe immer mehr Lust, nach Kyjiw zurückzukehren. Das ursprüngliche und einzigartige Kyjiw ist in meinen Erinnerungen lebendig. Gebäude aus farbigen Ziegeln, bergiges Gelände, der Fluss Dnipro, Schiffe (… ) Das Stadtleben hat mich beeinflusst."

Die Art und Weise der russischen Kulturdiplomatie hat dazu geführt, dass viele Kunstschaffende, die sich als Ukrainerinnen und Ukrainer identifiziert haben, als russisch konzipiert wurden. Außer Malewytsch sind das zum Beispiel Dawyd Burljuk oder Oleksandr Archypenko. Das ist die Folge des Verschweigens des ukrainischen Kontextes in der Avantgarde.

Das heißt aber nicht, dass das Œuvre der ukrainischen Kunstschaffenden sich ausschließlich im ukrainischen Kontext befindet. Der ukrainische Künstler Nikita Kadan sagt: "Eine Aneignung der Avantgarde aus nationalistischen Positionen auf der Ebene des praktischen Handelns scheint möglich zu sein, es wäre aber dann keine Avantgarde mehr. Ihre universalistische Bedeutung, ihre Ausrichtung auf eine postnationale Welt – all das wäre unmöglich." Das bedeutet aber auch, dass diese Kunstwerke nicht als russisch wahrgenommen werden sollten.

Kunst, die politische Unabhängigkeit legitimiert

Die russische kulturelle Diplomatie hat in Kombination mit einem früheren Fehlen von solcher Politik auf der ukrainischen Seite dazu geführt, dass das Bild von einem Volk mit der gemeinsamen Kultur, Traditionen und Sprache für Jahrzehnte geprägt wurde. Als Folge waren viele Menschen überzeugt, dass die Ukraine, wenn nicht ein Teil von Russland, dann bestimmt Russland ganz ähnlich wäre.

Die meisten kennen das berühmte russische Ballett oder die bekannte Literatur Russlands. Man weiß von Dostojewski, Tolstoj und Tschaikowski. Dabei werden der Ukrainer Malewytsch oder der in Belarus geborene Chagall, die bedeutsame Künstler waren, als Russen im kollektiven Gedächtnis erfasst. Das wird auch von russischen Institutionen lobbyiert und unterstützt.

"Carol of the Bells" als ukrainischer Erfolg

Die Ausübung der russischen Soft Power dauert bereits Jahrhunderte an. Nichtsdestoweniger hat auch die ukrainische Kulturdiplomatie eigene Erfolge vorzuweisen. Das bedeutsamste Beispiel dafür ist das Lied "Carol of the Bells", welches ursprünglich ein ukrainisches Weihnachtslied namens "Schtschedryk" war.

Die Musik für das Lied stammt vom ukrainischen Komponisten Mykola Leontowytsch. Später veröffentlichte Peter J. Wilhousky, ein amerikanischer Komponist ukrainischer Abstammung, den englischen Text des Liedes und adaptierte es als Weihnachtslied, wodurch "Schtschedryk" als "Carol of the Bells" weltweit bekannt wurde.

Im Jahr 1919 erklärte die Ukraine ihre Unabhängigkeit. Bald danach begann die Sowjetunion die Invasion der Ukraine und anderer Länder. Diese Zeit ist auch als Roter Terror bekannt. Symon Petljura, eine der bedeutendsten Figuren der damaligen ukrainischen Politik, hat zur Zeit des Roten Terrors einen Chor auf eine weltweite Tour geschickt. Er glaubte, dass diese kulturelle Diplomatie der Welt zeigen könne, dass die Ukraine ein souveräner Staat ist.

Im Juli 1919 gab die Ukrainische Republikanische Kapelle ein Konzert in Wien. Die Wienerische Monatsschrift Musica Divina schrieb: "Die kulturelle Reife der Ukraine sollte ihre politische Unabhängigkeit legitimieren." Die Ukrainische Republikanische Kapelle besuchte zehn Länder und gab mehr als 200 Konzerte. Viele Kunstschaffende, Politikerinnen und Politiker sowie Prominente schrieben der Kapelle, um sie zu unterstützen.

Das Lied "Schtschedryk" wurde in mehrere Sprachen übersetzt. Im Jahr 1936, als die Ukraine bereits ein Teil der Sowjetunion war, hat Peter J. Wilhousky den Text ins Englische übersetzt, was das ukrainische Volkslied zu "Carol of the Bells" machte.

Gegenoffensive der ukrainischen Kunstschaffenden

So wie vor hundert Jahren kämpfen ukrainische Kunstschaffende nicht nur an der Front, sondern auch auf dem Kulturgebiet. Im Jahr 2022 sieht die ukrainische Kulturdiplomatie anders aus als im Jahr 1919 , da es mehr Unterstützung von Außen gibt. Weltbekannte Prominente kommen in die Ukraine, um ihre Unterstützung zu zeigen, sie sammeln Spenden, starten Hilfsinitiativen und verbreiten Informationen über die Ukraine.

Der renommierte Historiker Timothy Snyder hielt nicht nur seine Yale-Vorlesungen über die Geschichte der Ukraine "The Making of Modern Ukraine" frei zugänglich für alle, sondern wurde auch gemeinsam mit dem Schauspieler Mark Hamill zum Ambassador der Initiative "United 24". United 24 ist eine Spendenprogramm des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, bei der Geld auf die offiziellen Konten der ukrainischen Nationalbank überwiesen werden kann, wo dieses von den zuständigen Ministerien für die Deckung der wichtigsten Ausgaben verwendet wird. Sean Penn übergab Präsident Selenskyj seinen Oscar. David Letterman interviewte Selenskyj und teilte die Witze ukrainischer Stand-up-Comedians auf seinen Kanälen. Pink Floyd machte ein Lied mit dem ukrainischen Sänger Andrij Khlywniuk (Boombox).

Dies wäre nicht nur vor hundert Jahren, sondern auch letztes Jahr noch unvorstellbar gewesen. Ukrainische Kunstschaffende reisen nicht nur nach Europa, um Spenden zu sammeln, sondern auch, um über die Lage in der Ukraine zu berichten und die ukrainische Kultur der Welt vorzustellen. Wie es zum Beispiel der diesjährige Gewinner des Friedenspreis des deutschen Buchhandels, Serhij Zhadan, macht. Jedes Konzert und jeder Auftritt in Europa ist für ihn eine Gelegenheit, über die Ukraine, deren Sprache, Musik, Literatur, Menschen und natürlich über den Krieg zu reden.

Gründung von Initiativen

Kunstschaffende wie der ukrainische Kurator Vasyl Cherepanyn arbeiten an Initiativen, die den ukrainischen Künstlerinnen und Künstlern helfen sollen, Aufmerksamkeit auf die Probleme in der Ukraine zu lenken. Der Organisator vom Kyiv Biennial versucht jetzt zu helfen, Museumssammlungen und Kunstwerke aus den stark bombardierten Regionen zu evakuieren.

Cherepanyn sagt von sich, dass er an an der internationalen Kultur- und Informationsfront tätig ist. Zusammen mit den anderen Kolleginnen und Kollegen aus der Visual Culture Research Center startete er die Emergency Support Initiative, die Kunstschaffenden, Kuratorinnen und Kuratoren sowie anderen momentan Bedürftigen Unterstützung anbietet. Eine ähnliche Initiative "Office Ukraine. Shelter for Ukrainian Artists" gibt es auch in Wien.

Über die russische Kultur und ob man sie boykottieren sollte, sagte Vasyl im Interview mit dem STANDARD: "Dieser Angriffskrieg ist nicht von heute auf morgen passiert, dieser Prozess läuft seit vielen Jahren. Wo waren die russischen Kulturinstitutionen in all dieser Zeit? Sie haben munter profitiert und alles akzeptiert, was bis dahin geschah: von der Einschränkung der Presse- und Demonstrationsfreiheit bis hin zur Ermordung Oppositioneller."

Dialog durch die Kunst

Kultur kann nur innerhalb einer Gesellschaft existieren, daher spiegelt sie deren Diskurse wider. Kulturdiplomatie kann, wie alles andere, für Propaganda und Verdrehung der Realität verwendet werden. Jahrzehnte russischer "Soft Power" in Form von Kulturdiplomatie haben einen Eindruck hinterlassen, der nicht in einem Jahr verschwinden kann.

Es ist wichtig, dass die ukrainische Kultur repräsentiert wird und Personen aus der Kultur gehört werden. Die Kulturdiplomatie der Ukraine spielt derzeit eine wichtige Rolle, da es eine Möglichkeit ist, ein besseres Verständnis über das Land zu schaffen. Die heutige ukrainische Kulturdiplomatie ist ein lebendiger Dialog der Ukraine mit der Welt mittels Kunst. Und dieser Dialog muss weitergeführt werden. (Olena Levitina, 13.12.2022)