"Wenn die EU-Kommission die Erfüllung der von ihr gestellten 27 Bedingungen (für die Freigabe von insgesamt 13,2 Milliarden Euro für Ungarn, Anm.) ernst nimmt und ihre Erfüllung ernsthaft kontrolliert, dann könnte das Orbán-Regime zusammenbrechen!" Das sagte der international angesehene Ex-Direktor des Weltwirtschaftlichen Institutes der ungarischen Akademie der Wissenschaften, András Inotai, in einem Interview. Er fügte hinzu, das Regime habe keine Wirtschaftspolitik, sondern nur eine Machtpolitik. Alles, von der Bildung bis zum Budget, Gesundheitswesen, Umweltschutz, Sozialfragen und Außenpolitik, wird der momentanen Machtpolitik untergeordnet. Das Resultat der zwölf Jahre der Orbán-Politik sei die "Selbstversklavung" des Landes.

De ungarische Regierungschef Viktor Orbán ist ein brillanter Taktiker des "Pfauentanzes", der geschickt verschleierten Erpressung Brüssels.
Foto: AP Photo/Markus Schreiber

Sogar der Nationalbankpräsident und Vertraute Viktor Orbáns, György Matolcsy, schloss sich am Montag den Ökonomen an, die vor den Folgen der dramatischen Lage warnen: der Forint im freien Fall, die Inflation liegt bei 20 Prozent, bei den Nahrungsmitteln sogar bei 40 Prozent. Trotzdem heißt es noch immer in der Regierungspropaganda: Nicht die verfehlte Wirtschaftspolitik, die teueren Geschenke an die Ungarn vor den letzten Wahlen (dreizehnte Monatsrente, keine Einkommensteuer für Einwohner unter 25 Jahren, Steuerrückerstattungen und Deckelung des Benzinpreises etc.), nicht der größte Sumpf von Korruption in der EU sind die Ursachen der Krise, sondern ausschließlich die Russland-Sanktionen der EU. Diese Botschaft vermitteln die großflächigen Plakate im Lande mit der Aufschrift "Sanktionen", dazu das Bild einer Bombe: "Brüssels Sanktionen zerstören uns!" Als ob letzten Endes die Ukraine schuld wäre, weil sie vor dem russischen Aggressor nicht kapituliert.

Osteuropäischer Mafiastaat

Ministerpräsident und Parteichef Orbán sei der Alleinherrscher an der Spitze eines Systems der Clans und Sippen, der Pate eines osteuropäischen Mafiastaates, heißt es in fast gleichlautenden Definitionen, zuletzt auch von dem herausragendsten Schriftsteller Ungarns, Péter Nádas, und dem Soziologen Bálint Magyar. Die anhaltenden Straßenproteste der Lehrerinnen und Lehrer und der Schülerinnen und Schüler spiegeln die wachsenden gesellschaftlichen Spannungen. Es dürfte kein Zufall sein, dass in Ungarn das Unterrichts- und Gesundheitswesen zum Innenministerium gehören.

Im alten Konflikt zwischen der Europäischen Union und Orbán sehen jetzt manche Beobachter eine historische Entscheidung zugunsten der europäischen Werte und gegen den nationalpopulistischen Kurs des ungarischen Regierungschefs voraus. Die Entscheidung zum Zudrehen des Geldhahnes muss letztlich von 15 EU-Staaten, die gemeinsam 65 Prozent der Bevölkerung ausmachen, gefasst werden. Es ist allerdings keineswegs sicher, dass sich die Orbán-Kritiker voll durchsetzen können.

Die Regierungen Italiens und Polens unterstützen das Orbán-Regime, und er selbst dürfte keine Hemmungen haben,als Druckmittel die Zustimmung zur Ukraine-Hilfe von 18 Milliarden Euro und zur globalen Mindeststeuer für Konzerne einzusetzen. Er ist ein brillanter Taktiker des "Pfauentanzes", der geschickt verschleierten Erpressung Brüssels. Geht es doch auch beim neuen Pokerspiel in erster Linie um den Machterhalt seines Systems. (Paul Lendvai, 6.12.2022)