Vermutlich gibt es nicht allzu viele Menschen, die Sonnenaufgänge nicht mögen. Der Haken an der Sache ist systemimmanent: Um einen schönen Sonnenaufgang erleben zu können, muss man wach sein, bevor die Sonne über den Horizont krabbelt. Und einen Ort erreichen, von dem aus sich der Blick lohnt.

Das wiederum bedeutet meist Frühaufsteh-Ungemach oder -Überwindung. Denn auch wenn man weiß, dass die Belohnung dann die Mühsal mehr als wert gewesen sein wird, ist der Moment des Aufstehens … und so weiter.

Foto: Tom Rottenberg

Am grundsätzlichen Aufstehen-Müssen ändert auch die einfachste Strategie, nicht ganz so früh rauszumüssen, wenig: Im Winter geht die Sonne später auf. Klingt gut. Blöderweise ist das Wetter dann aber in unseren Breiten meist dergestalt, dass die Lust am Aufstehen noch mehr enden wollend ist. Kanada kann da noch was extra: Null Grad und 25 km/h Wind (plus Böen bis 50 km/h) ergeben ein Windchill-Amalgam, über das man im Bett lieber nicht nachdenkt. Weil man sonst das Haus ziemlich sicher nicht verlässt. Oder?

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Womit wir in Montreal angekommen wären. Dort muss man natürlich auch nicht zwingend früher raus als unbedingt nötig. Aber wer (aus beruflichen Gründen, die hier nichts zur Sache tun im Vorfeld der COP 15) ein paar Tage in Montreal ist und deshalb nur in der Früh Zeit zum Laufen hat, tut sich vielleicht ein wenig leichter, wenn er oder sie bekennend "Sunrise-Dings" ist: Meinen liebsten Wiener Sonnenaufgangslauf (das Donauufer hinunter zur Pagode, um genau jenen Moment zu erwischen, wenn die ersten Sonnenstrahlen übers Wasser kommen und den Stupa erstrahlen lassen) habe ich heuer zwar schon mehrfach verschoben. In Montreal konnte ich mir das nicht leisten. Auch weil wolkenlose Herbstmorgen dort noch rarer sind als daheim. Angeblich.

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Mit rund 1,8 Millionen Einwohner:innen in der Stadt und fast vier Millionen Menschen im weiteren Einzugsgebiet ist die größte Stadt Quebecs Wien grundsätzlich nicht unähnlich. Auch was Wind, Wasser und Hügel angeht, gibt es Parallelen. Und im November merkt man davon, dass die einstige Olympiastadt sich brüstet, die im Winterschnitt kälteste Millionenstadt der Welt zu sein, auch noch nicht ganz so viel: Bei unserem ersten Lauf fegten uns statt erster Sonnenstrahlen erste Schneeflankerln um die Nasen. Später schüttete es eisig. Aber Kaltwindmorgenläufe erlebt man in Wien auch.

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Sich Montreal läuferisch anzunähern funktioniert so wie in jeder anderen Stadt der Welt: Man stöbert auf Seiten wie "Great Runs" oder sucht auf Routenplattformen wie Komoot, Strava & Co nach Tipps, Strecken oder "Heatmaps". Also auf Karten "leuchtende", weil meistgenutzte Strecken, die leicht erkennbaren Hauptrouten. Für den Einstieg ist das super: Meist landet man genau dort, wo auch wir uns herumtrieben. Dort nämlich, wo einen die Logik des Stadtlaufens zuerst hinverschlagen würde. In Montreal sind das die "Waterline" und der Mount Royal.

Und für das "Site-Running" die Altstadt.

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Dazu, wie man als Läuferin oder Läufer in der Fremde am einfachsten feine Routen findet, kommt hier demnächst eine eigene Geschichte. Auch weil Mark Lowenstein, der Gründer von "Great Runs", aus Montreal stammt.

Seine Plattform wird mittlerweile monatlich von 250.000 Nutzerinnen und Nutzern (kostenfrei) genutzt – und von einem weltweit aktiven Netzwerk von Autorinnen und Autoren laufend (sic!) erweitert.

Montreal, so der heute in Boston lebende Great-Run-Erfinder, sei eine gute Laufstadt. Und auch ein gutes Erklärmodell dafür, was Städte gut belaufbar macht – und wie man gute Laufrouten entdeckt. Verknappt geht es um organisch-historische Stadtentwicklung, Wasserläufe und Parks – und Radinfrastruktur. Aber dazu demnächst mehr.

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Montreal hat zwei Laufhauptachsen. Oder Laufregionen: Die eine liegt am Lachine-Kanal. Knapp über 14 Kilometer führt der Kanal von der Altstadt und dem Alten Hafen Montreals nach Westen – und ist heute eine nationale Sehenswürdigkeit und ein geschützter, langgestreckter Park. Der in den 1820ern erbaute und in den 1970ern dann stillgelegte Schiffskanal mit seinen ursprünglich sieben Schleusen umschiffte die gefährlichen Stromschnellen im Sankt-Lorenz-Strom, über den seit jeher der Schiffs- und damit Güterverkehr zwischen den Großen Seen und dem Atlantik abgewickelt wurde.

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Pläne, die gefährlichen "Rapids" zu umgehen, gab es seit dem Beginn der Kolonialisierung der Region, diverse Kanalideen wurden ab der Mitte des 17. Jahrhunderts immer konkreter. Doch erst mit der Industrialisierung kam er dann wirklich – und führte zum Aufstieg Montreals zur wirtschaftlichen und kulturellen Drehscheibe Quebecs.

Klar kann man das auch einfach nachlesen. Aber Geschichte kann man sich auch "erlaufen". Hier etwa.

(Anmerkung: Keine Angst, die Frau vor uns hat sich beim Stolpern nicht wehgetan.)

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Denn die Industriebauten stehen hier immer noch entlang des Ufers. Etliche wurden in den vergangenen Jahren in moderne Wohnviertel umgewandelt und "entwickelt". In Sachen Wohnqualität vermutlich ziemlich fein – jedenfalls im Vorbeilaufen.

Dort, wo aber die alte Substanz noch steht (oder verfällt), lässt sich anhand diverser "Nutzungs"-Spuren Stadt- und Entwicklungsgeschichte schön illustrieren: Zuerst kommt der Leerstand. Dann Graffitis. Dann eventuell ein paar Squater, also Hausbesetzer. Dann Clubs oder kulturelle Pop-up-Nutzung – und dann eben die Immo-Projekte.

Gegenden zu "entwickeln" ist an sich nichts Böses. Es kommt halt drauf an, wie eine Stadt mit Gentrifizierung, (architektonischer) Geschichte und denen, die am Rand Unterschlupf suchen, umgeht.

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Bei Städten wie Montreal ist das sogar für Laien erkennbar. Gerade beim Laufen (oder auf dem Rad).

Natürlich lächeln wir leise, wenn im historischen Museum der Stadt ein paar Meter Kanalanlagen von 1861 stolz als "archäologische Relikte" begehbar inszeniert werden. Oder Geschirr und Besteck von 1810 präsentiert wird wie in Europa Fundstücke aus Pompeji oder die Venus von Willendorf. (Die viel weiter zurückreichende Geschichte der indigenen Bevölkerung wird heute nicht mehr ausgeblendet – es gibt aber "dank" der Kolonialisierung weit weniger Artefakte.) In der Stadt selbst manifestiert sich Geschichte dennoch anders spannend: Über die Übergänge zwischen Alt und Neu.

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Wenn man sich vom Dicht-an-dicht der Kolonialstilbauten und Hochhäuser nicht irritieren lässt, bemerkt man da gerade beim Laufen etwas anderes: wie wichtig eine gewachsen historische Struktur für die Fußläufigkeit und damit die Lebensqualität einer Stadt ist. Egal ob man sich Montreal überirdisch oder im verzweigten Labyrinth der "unterirdischen Stadt" (einem wettergeschützten 30-Kilometer-Netzwerk aus Gängen, Geschäften und Lokalen) zu eigen macht: Distanzen und Wege sind "menschlich", die Infrastruktur nicht autooptimiert.

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Vielleicht ja auch nur "mittlerweile nicht mehr". Wie ernsthaft eine Stadt sich vom Diktat des Autoverkehrs befreien will, erkennt man nicht nur daran, wie viel Raum dem Fuß-, sondern auch daran, wie viel Raum dem Radverkehr zurückgegeben wird.

Nicht nur, weil ernst gemeinte Radwege im innerstädtischen Bereich nur auf Kosten der Autoflächen errichtet werden können, sondern auch, weil es da um Priorisierungen geht.

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Zum einen bei der Programmierung von Ampeln und der Frage, wer da wann wo wie lange wartet – aber auch in den Köpfen: Dass ein Polizist sich bei mir, dem Läufer, proaktiv entschuldigt, weil er an einer Ampel den Autoverkehr nicht sofort anhielt, als wir uns näherten, war ein echtes First: "Sorry, for the delay, I looked the other way."

Dass Polizistinnen oder Polizisten von sich aus und ungefragt Laufrouten empfehlen, auch – erst recht, wenn es von einem der zahllosen Fahrrad-Cops beim Vorbeifahren kommt: "Courez sur le Mont Royal demain! Vous allez aimer ça!" Kanada ist eben anders.

Foto: Tom Rottenberg

Geheimtipp ist der Mount Royal, der namensgebende Hausberg Montreals, natürlich keiner. Aber darum geht es beim Sich-eine-Stadt-Erlaufen ja auch nicht.

Der Hügel mit dem super Blick auf Hafen und den Sankt-Lorenz-Strom lag einst hinter der Stadt. Benamst wurde er so 1535 von einem der ersten Europäer, die hierherkamen, dem französischen Seefahrer Jaques Cartier. Den führten hier ansässige Irokesen auf den 233 Meter hohen Berg.

"Mont Real", sagte Cartier. Das blieb. Der Name des Irokesendorfes, Hochelaga, steht heute immerhin wieder in Geschichtsbüchern und auf Gedenksteinen.

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Heute liegt der Berg mitten in der Stadt, ist aber als Grün- und Erholungsraum erschlossen – und, viel wichtiger, weitestgehend erhalten. Auch wenn man an jeder zweiten Kurve wieder die Stadt und ihre Hochhäuser vor sich hat, hat man doch immer wieder das Gefühl, mitten im Wald zu stehen.

Umso überraschender sind die Blicke auf die Universität, auf Friedhöfe und herrschaftliche Häuser – oder den Park mit seinem künstlichen See und seinen Skulpturen. Ein Park im Wald? Ja, und zwar von einem der ganz Großen der Parkgestaltung. Denn bevor Frederick Law Olmsted hier 1876 seinen 190 Hektar großen "Parc du Mont-Royal" eröffnete, hatte er schon anderswo "zugeschlagen": Er zeichnet für den New Yorker Central Park verantwortlich.

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Dass der Winter in Kanada auch urban knackig sein kann, weiß man eh. Aber die Schilder an den nichtbefestigten Wegen im "Wald" erzählen diese Geschichte dann nebenbei. In Wien, könnte man einwerfen, gibt es ja auch noch Hinweise auf die fünf städtischen Langlaufloipen. Und auch wenn niemand weiß, was aus der Pistenwalze des Stadtgartenamtes wurde, stehen am Rodelhügel auf der Jesuitenwiese immer Schneekanonen. Nur: All das war seit Jahren nicht mehr in Betrieb.

Schneeschuhwandern mitten in Montreal soll aber, sagte man uns, immer noch jedes Jahr möglich sein.

Vermutlich auch, um dann den Sonnenaufgang über der Stadt zu erleben.

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Der beste Ort dafür ist dann nicht das über 30 Meter hohe Kreuz auf dem Hügel, sondern die Terrasse vor dem Chalet du Mont Royal, einem Schlösschen aus den 1930er-Jahren.

Und falls Sie mich jetzt fragen, wie dieses Schloss aussieht und in welchem Stil es erbaut wurde, muss ich passen: Ich glaube, ich habe es wirklich nicht gesehen – weil ich, als wir hier oben ankamen, nur Augen für den Ausblick von hier oben hatte.

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Für einen Sonnenaufgang, wie man ihn angeblich auch als "Local" hier nur selten zu sehen bekommt.

Bei dem man dann keine Sekunde mehr nachdenkt, ob er das frühe Aufstehen, das Anrennen gegen den Wind, das Frieren am Anfang auch wert war.

Dass er das ist, weiß man eh. Immer. Auch vorher.

Aber jetzt, hier oben, spürt man es dann.

Und darauf kommt es an. (Tom Rottenberg, 7.12.22)


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