In Brasilien haben die Brandrodungen im Amazonasgebiet in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen. Die EU-Kommission will die Handelsbeziehungen dennoch künftig verstärken und bringt das Mercosur-Abkommen wieder ins Spiel.

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Es ist ein Abkommen, das seit zwei Jahrzehnten für Aufregung sorgt. 2019 stand das Freihandelsabkommen zwischen der EU und den südamerikanischen Mercosur-Ländern kurz vor dem Abschluss – doch ein Veto Österreichs legte das Vorhaben auf Eis. Seitdem war es still um das umstrittene Abkommen geworden, angesichts aktueller Krisen flammt die Debatte nun wieder auf.

Die EU will eine beschleunigte Durchsetzung, von NGOs und Organisationen der Zivilgesellschaft hagelt es Kritik. Auch beim Mercosur-Gipfel am Dienstag in Montevideo waren Freihandelsabkommen wie jenes mit der EU Thema, schließlich geht es um Milliarden-Exporte für die beteiligten Länder und das Vorantreiben der Wirtschaft.

Doch die Debatte ist vielschichtig, nicht zuletzt aufgrund des nachlassenden Welthandels, der offenkundigen Abhängigkeiten Europas bei kritischen Rohstoffen und der voranschreitenden Klimakrise.

Trend zu Deglobalisierung

Glaubt man Wirtschaftsexperten um US-Ökonom Adam Posen, hat der Krieg in der Ukraine den bereits bestehenden Trend zur "Deglobalisierung" weiter beschleunigt. Auch die aktuellen Daten des Kieler Instituts für Weltwirtschaft zeichnen ein ähnliches Bild: Die weltweiten Handelsströme haben im Vergleich zum vergangenen Monat deutlich abgenommen.

Das betrifft große Teile Europas, aber auch in Südamerika sind die Zahlen rot. Tatsächlich stagnieren die Exporte Argentiniens seit Anfang 2021. Und auch Brasiliens Exporte verzeichneten zuletzt einen klaren Rückgang.

Für Verfechter der globalisierten Welt sind das Warnsignale, die Forderungen nach bilateralen Handelsabkommen werden wieder lauter. EU-Außenbeauftragter Josep Borrell etwa plädierte in einem Kommentar im STANDARD für vertiefte Beziehungen zwischen der EU und den Ländern Lateinamerikas – und bekräftigt das Vorhaben, das Mercosur-Handelsabkommen zum Abschluss bringen zu wollen.

NGOs befürchten Abholzung und Lohndumping

Argentinien, Brasilien, Paraguay, Uruguay und Venezuela sollen davon nicht nur wirtschaftlich profitieren, auch sozial und umwelttechnisch würde ein solches Abkommen zahlreiche Vorteile bringen, so die Argumentation der Befürworter.

Das sieht allerdings bei weitem nicht jeder so. Österreich legte 2019 ein Veto ein, auch andere Länder, etwa Frankreich und Belgien, positionieren sich gegen das Abkommen. Zudem schlagen Umwelt- und Zivilgesellschaften Alarm: Das Abkommen ignoriere die Klimakrise, verhindere gute Arbeitsbedingungen und schwäche die bäuerliche Landwirtschaft.

Vor allem Letzteres ist auch Österreichs Landwirtschaftsminister Norbert Totschnig (ÖVP) ein Dorn im Auge. "Mercosur ist unter den derzeitigen Voraussetzungen kein Thema. Es wird Regenwald zur Ausweitung von Produktionsfläche abgeholzt, gleichzeitig schraubt Europa mit dem Green Deal seine Standards nach oben – das passt nicht zusammen", äußerte er sich kürzlich im STANDARD-Interview.

Veto Österreichs droht an Bedeutung zu verlieren

Zu allem Überfluss plant die EU nun ein sogenanntes Splitting von Assoziierungsabkommen und will damit die Durchsetzung beschleunigen. Das Veto Österreichs würde so an Wert verlieren, der Einwand einzelner Länder kaum noch Bedeutung haben. Die österreichische Bundesarbeiterkammer spricht von einem "Angriff auf die Demokratie" und fordert in einem offenen Brief gemeinsam mit über 200 weiteren Organisationen den Stopp des Vorhabens.

Neben der EU-Kommission spricht sich nur Deutschlands Bundeskanzler Olaf Scholz klar für das Mercosur-Abkommen aus. Wenig überraschend, bedenkt man die Bedeutung der Automobilexporte für Deutschland. Bereits jetzt entfällt rund ein Drittel der EU-Exporte nach Lateinamerika auf Güter des Maschinen- und Fahrzeugbaus.

Gleichzeitig aber machen Lieferungen nach Brasilien, Argentinien und Co nur einen Bruchteil der gesamten EU-Exporte aus. Von einer verstärkten Handelsverflechtung profitiert so nicht nur die Autoindustrie, sondern die gesamte deutsche Wirtschaft.

Auch aus Sicht der Mercosur-Länder bringt ein Freihandelsabkommen – wenig überraschend – wirtschaftliche Vorteile. Bereits jetzt ist die EU der wichtigste Absatzmarkt, exportiert werden vor allem Erzeugnisse aus Landwirtschaft und Bergbau sowie Nahrungs- und Futtermittel – Stichwort Soja. Auf Letzteres zielt auch das Freihandelsabkommen ab: Zollschranken sollen beseitigt und so Agrarexporte nach Europa gezielt angekurbelt werden.

Geopolitische Komponente zunehmend im Fokus

Nicht zu unterschätzen ist zudem die geopolitische Bedeutung bilateraler Abkommen. Das zeigte etwa die Abhängigkeit von russischem Erdgas unmissverständlich auf. Und auch wenn die Importe von russischem Erdgas und Erdöl deutlich zurückgegangen sind, ist das Problem noch lange nicht aus der Welt geschafft.

Seltene Erden etwa, deren Bedarf sich in der EU bis 2030 verfünffachen soll, werden zu 98 Prozent aus China importiert. Als alternative Rohstofflieferanten kommen nun die Mercosur-Länder ins Spiel; sie gelten als rohstoffreich und werden großteils demokratisch regiert.

Damit sieht die EU-Kommission sie nicht nur als verlässliche Handelspartner, sondern auch als wichtige Verbündete bei geopolitischen Vorhaben. So zumindest die Argumentation. Ein Blick auf die Demokratiematrix der Deutschen Forschungsgemeinschaft aus dem Jahr 2021 zeichnet jedoch ein gegensätzlich Bild: Die Einstufungen reichen von einer defizitären Demokratie in Uruguay bis hin zu einer moderaten Autokratie in Venezuela.

Präsidentschaft Lulas als Hoffnungsschimmer

Als Hoffnungsschimmer gilt der politische Machtwechsel in Brasilien. Nach schwierigen Jahren unter dem rechten Präsidenten Jair Bolsonaro, in dessen Amtszeit die Abholzung des Amazonas stark vorangetrieben wurde, tritt nun mit Anfang nächsten Jahres Luiz Inácio Lula da Silva in dessen Fußstapfen.

Er setzt sich für eine Kehrtwende in der größten Volkswirtschaft Südamerikas ein, will die von Bolsonaro beschleunigte Entwaldung stoppen und die Demokratie Brasiliens wieder auf Vordermann bringen. Darauf zählt auch EU-Außenbeauftragter Borrell.

"Die brasilianische Mercosur-Präsidentschaft und die spanische EU-Ratspräsidentschaft (...) bieten eine Gelegenheit, den Beziehungen zwischen der EU und Mercosur die nötige Dynamik zu verleihen", ist er überzeugt. Ob das tatsächlich der Fall sein wird, ist angesichts der breiten Kritik jedenfalls fraglich – auch deshalb, weil nicht nur die europäischen, sondern auch die südamerikanischen Länder derzeit kaum eine gemeinsame Linie finden.

Am Mercosur-Gipfel lieferten sich die Staatschefs Dienstagabend einen harten Schlagabtausch über die Zukunft der Handelsbeziehungen. Während die rechten Regierungen in Brasilien und Uruguay Handelshemmnisse abbauen wollen, will die linke Regierung Argentiniens die heimische Wirtschaft vor internationaler Konkurrenz schützen. (Nicolas Dworak, 7.12.2022)