Eine Augenweide und ein Positivbeispiel für gelungene Schutzmaßnahmen: Der Bestand der Großtrappen hat sich in Österreich in den vergangenen 30 Jahren stetig erholt.
Foto: Imago/Imagebroker

Es ist ein kryptischer Code, der im Rahmen der Biodiversitätskonferenz ab Mittwoch im kanadischen Montreal verhandelt wird: 30×30. Dahinter verbirgt sich die Aufforderung an alle Staaten, bis zum Jahr 2030 mindestens 30 Prozent des Landes und der Meere unter Schutz zu stellen – unter Anerkennung der Rechte indigener Völker. Damit soll die rasant fortschreitende Zerstörung der Artenvielfalt gestoppt werden. Denn die Zahlen sind alarmierend: Eine Million Arten ist vom Aussterben bedroht. 70 Prozent der seit 1970 erfassten Populationen an Säugetieren, Vögeln, Fischen, Amphibien und Reptilien sind laut dem aktuellen "Living Planet Report" des WWF durch den Einfluss des Menschen bereits verschwunden.

Rund eine Million Tier- und Pflanzenarten drohen zu verschwinden. Sterben sie aus, wird es auch für uns ungemütlich. Warum das so ist, wie der Mensch das Artensterben vorantreibt und wie es sich aufhalten lässt
DER STANDARD

Es gebe nicht "die eine" Antwort, wie das Artensterben gestoppt werden könne, sagt der Biodiversitätsforscher Franz Essl von der Universität Wien dem STANDARD. Das 30×30-Ziel erachtet er als sinnvoll. Vieles deute darauf hin, dass Schutzgebiete das effizienteste und stärkste Instrument für die Erhaltung von Arten und Lebensräumen seien. Das bestätigt auch Katrin Böhning-Gaese, Direktorin des Senckenberg Biodiversität und Klima Forschungszentrums in Frankfurt: "Innerhalb von Schutzgebieten bleibt die Biodiversität erhalten oder steigt sogar an. Das wissen wir vom Monitoring." Voraussetzung sei allerdings, dass die Schutzzonen groß genug und gut gemanagt seien.

Wenig Platz, wenig Geld

Wie schwierig es die Natur auch in Österreich hat, zeigen einige Zahlen: Nur drei Prozent der Landesfläche stehen unter strengem Naturschutz. Das sind die sechs Nationalparks, vier Biosphärenparks und die Wildnisgebiete Dürrenstein und Untersulzbachtal. 14 Prozent der Landesfläche sind Naturschutzgebiete oder Natura-2000-Gebiete, zwölf Prozent Landschaftsschutzgebiete mit geringem Schutzstatus.

Kritisiert wird aber auch, wie wenig Geld für den Artenschutz zur Verfügung steht. Im 2020 geschaffenen Biodiversitätsfonds des Klimaschutzministeriums liegen derzeit 80 Millionen Euro – für den Zeitraum von vier Jahren. Davon stammen 50 Millionen Euro aus der Recovery and Resilience Facililty der EU, einem einmaligen Fördertopf.

Mangelnde Prioritäten

Um den Artenschutz zu stärken, fordert der Österreichische Biodiversitätsrat allerdings, rund eine Milliarde Euro pro Jahr bereitzustellen. Dass es nicht am Geld mangelt, sondern an Prioritäten, kritisiert Biologe Essl , selbst Mitglied des Biodiversitätsrats, anhand des Beispiels Niederösterreich: "Das Naturschutzbudget betrug im Vorjahr 15 Millionen Euro. Für den Neubau von Straßen wurden 450 Millionen Euro ausgegeben. Das ist ein Verhältnis von eins zu 30." Würde man die Bevölkerung fragen, wie viel Geld für den Naturschutz ausgegeben werden soll, wäre das Verhältnis sicherlich ein anderes, ist Essl überzeugt. Dazu komme, dass der Straßenbau ein wesentlicher Treiber für den Verlust von Boden und die Zerschneidung und Zerstörung von Naturlebensräumen sei.

Eine gute Möglichkeit, rasch mehr für bedeutende Lebensräume und Arten zu tun, wäre mehr Vertragsnaturschutz, schlägt Essl vor. Dabei verpflichten sich Grundstückseigentümer, zum Beispiel einen Wald außer Nutzung zu stellen oder eine Wiese artenreicher zu gestalten, und werden dafür entschädigt. Als positives Beispiel dafür nennt er den Schutz der Großtrappe, eines beeindruckenden Steppenvogels, der weiträumige, offene Landschaften benötigt.

"Für Straßenbau wird 30-mal mehr Geld ausgegeben als für Naturschutz", kritisiert der Biodiversitätsforscher Franz Essl.
Foto: Walter Skokanitsch

Vorzeigevogel Großtrappe

Die Intensivierung der Landwirtschaft und die Fragmentierung der Landschaft durch Straßen, Stromleitungen und Siedlungen haben den Lebensraum der Großtrappe in den vergangenen Jahrzehnten stark eingeschränkt. Seit Mitte der 1990er-Jahre gibt es in Ostösterreich Projekte zu ihrem Schutz: Stromleitungen wurden unter die Erde verlegt oder mit Warnkugeln versehen, Brachflächen über das landwirtschaftliche Umweltprogramm ÖPUL gefördert, Natura-2000-Schutzgebiete eingerichtet und spezielles Futtergetreide gesät. Dank dieser Mühen sei der Bestand der Großtrappe mittlerweile stabil, erklärt Essl. Die Population wurde 2005 auf bis zu 165 Individuen geschätzt, 2020 waren es schon knapp 500.

Als weiteren Erfolg nennt der Forscher auch den Schutz und die Wiedervernässung von Mooren in mehreren Bundesländern. Dazu zählen das Leckermoos bei Göstling an der Ybbs, das Tanner Moor in Oberösterreich oder Moore im Waldviertel und im Ausseerland. Intakte Moore sind für den Schutz der Biodiversität und das Klima gleichermaßen bedeutend: In Mooren lebt eine Vielzahl seltener, oft hochspezialisierter Pflanzen und Tiere. Und obwohl weltweit nur drei Prozent der Landfläche mit Mooren bedeckt sind, speichern diese etwa doppelt so viel Kohlenstoff wie alle Wälder zusammen. Wenn aber Moore entwässert werden, beginnt sich der Torf an der Luft zu zersetzen und emittiert große Mengen an Treibhausgasen.

Nationalparks schützen Biodiversität

In Österreich haben naturgemäß die Nationalparks große Bedeutung für den Schutz der Biodiversität. Laut einer Studie von Umweltbundesamt und Universität Wien aus dem Jahr 2021 sind zwischen 80 und 90 Prozent der Säugetier-, Brutvogel-, Reptilien-, Amphibien- und Fischarten in den Nationalparks vertreten. Auch 69 Prozent der Pflanzenarten sind dort verortet.

Um 30 Prozent der Landesfläche unter Schutz zu stellen, wie es auch die EU-Biodiversitätsstrategie für 2030 vorsieht, sei eine nationale Strategie nötig, fordert der Österreichische Biodiversitätsrat. Das in acht Jahren zu schaffen, sei anspruchsvoll, gibt auch Essl zu bedenken – nicht nur in Österreich. Derzeit sind 17 Prozent der Landfläche und sieben Prozent der Meere unter Schutz gestellt. Damit wurden die 2010 verabschiedeten Ziele bei Landmassen nahezu erreicht, bei den Meeren liegt man etwas darunter. Da lag das Ziel bei zehn Prozent bis zum Jahr 2020.

30 Prozent der Weltmeere sollen unter Schutz gestellt werden.
Foto: Imago/Imagebroker

Schwieriger Schutz der Weltmeere

In Montreal soll nun auch dieser Wert verdreifacht werden. Das ist laut Ansicht von Fachleuten wichtig, weil die Ozeane durch Müll, Abwässer, Überfischung, Schiffsverkehr, Erwärmung und Versauerung ein besonders stark bedrohter Lebensraum sind. Rechtlich und politisch wird es allerdings schwierig werden, fürchtet die Politikwissenschafterin Alice Vadrot von der Universität Wien, die zu internationalen Abkommen für Meere forscht.

Das Grundproblem von Schutzverträgen sei, dass das Meeresgebiet nur bis zu einer Breite von zwölf Seemeilen zum Hoheitsgebiet des angrenzenden Staates gehört. Jenseits von 200 Seemeilen liegt die hohe See, die allen Staaten der Erde offensteht und den Regeln des Seerechtsübereinkommens der Vereinten Nationen unterliegt. Daneben gibt es Schifffahrtsbehörden, Fischereiabkommen, die Meeresbodenbehörde und die Internationale Walkommission. Die Durchsetzung und Einhaltung solcher Gebiete scheitere daher oft an diesen vertrackten Zuständigkeiten, urteilt die Wissenschafterin.

Die Biodiversitätskonvention (CBD) etwa habe in den vergangenen zwölf Jahren rund 140 schützenswerte Gebiete in internationalen Gewässern nach wissenschaftlichen Kriterien identifiziert, sagt Alice Vadrot. Die UN-Seerechtskonvention müsste diese Gebiete implementieren, habe aber ihrerseits 2018 die "Zwischenstaatliche Konferenz über die biologische Vielfalt der Meere in Gebieten jenseits der nationalen Hoheitsgewalt" (BBNJ) ins Leben gerufen. "Idealerweise würden die Seerechtskonvention und die CBD zusammenarbeiten. Aber wenn ich mir die politischen Realitäten anschaue, dann ist das nicht sehr wahrscheinlich", meint die Politikwissenschaftlerin.

Unklar sei auch, was Schutzgebiet im Meer bedeute: "Sind das Gebiete, wo keine Fischerei, keine Schifffahrt passieren darf, nicht einmal Meeresforschung? Oder sind es Gebiete, in denen nur die Schifffahrt verlangsamt und der Fischfang reduziert wird?" Der Lebensraum Ozean sei zudem keine Fläche, sondern reiche weit in die Tiefe und verändere sich fließend. "Für das Meer bräuchte man eigentlich bewegliche, dreidimensionale Vorstellungen von Umweltschutzgebieten", sagt Vadrot. Um all die angesprochenen Punkte zu lösen, sei "enorm viel politischer Wille notwendig". (Sonja Bettel, 7.12.2022)