Die Journalistin Marija Barišić fordert in ihrem Gastkommentar von Serbinnen und Serben wie Kroatinnen und Kroaten, sich mehr einzumischen, "den rassistischen Parolen ihrer Eltern zu widersprechen, mit ihnen zu streiten und es selbst besser zu machen".

Fangen wir mit einer Kindheitserinnerung an: Es ist Juni 2008, ich bin 13 Jahre alt und stehe auf der Wiener Fanmeile. Die Fußball-EM findet damals in Österreich statt, an diesem Tag spielt Kroatien gegen die Türkei. Ich bin umgeben von kroatischen Fußballfans, trage ein kroatisches Trikot und wedle mit der kroatischen Fahne. Alle um mich herum sprechen wie ich, tragen dasselbe wie ich: rot-weiße Schachbrettmuster überall. Ich fühle etwas, das ich als Migrantenkind in Österreich selten fühle: absolute Zugehörigkeit. Die Stimmung ist elektrisierend, wir hoffen alle auf dasselbe: dass Kroatien heute bitte unbedingt gewinnen wird.

Fußball verbindet? Nicht immer – wie hier in Doha. In der Wiener Ottakringer Straße kam es nach dem WM-Aus von Serbien zu nationalistischen Ausschreitungen.
Foto: EPA / Martin Divisek

Viele Sprüche, die ich höre, sind mir unangenehm. Aber ich bin 13 und feig und will dazugehören. Ich lache mit. Die türkischen Fans, die gegenüber von uns stehen, lachen nicht. Irgendwer hat ihnen übersetzt, was die Kroaten brüllen, sie schauen ernst. Ich schaue weg. Nach dem Spiel (die Kroaten verlieren damals) geht es weiter: "Wäre ich Türke, würde ich mich umbringen, würde ich mich umbringen, würde ich mich umbringen."

Die, die nicht mitbrüllen, schauen betreten, viele lachen. Niemand sagt etwas, niemand tut etwas, niemand widerspricht. Niemand sorgt dafür, dass die, die brüllen, aufhören zu brüllen, obwohl die, die nicht brüllen, in der Überzahl sind. Eine Reihe von Polizisten schaut gelangweilt in die Meute.

Wut und Scham

In den vergangenen Tagen habe ich, als Kind einer serbischen Mutter, Wut und Scham wie damals wieder besonders stark gefühlt. Am Abend, als Serbien im WM-Spiel gegen die Schweiz verlor, zogen serbische Fußballfans durch die Straßen Wiens, die meisten sind Männer, viele sehen jünger aus als ich, sie sind vermutlich hier geboren und aufgewachsen. Auf einem Video ist zu sehen, wie sie serbische Fahnen in die Luft halten und dabei zum Massenmord an Albanern aufrufen. Sie rufen: "Töte, schlachte den Šip*** (eine rassistische Beschimpfung für Albaner, Anm.), bis er nicht mehr existiert!" Ich finde, es ist wichtig, diese Parolen genauso zu zitieren, wie sie gebrüllt werden, weil jede Umschreibung die Gewalt mildert, die in ihnen steckt.

Wer empört sich?

Zum ersten Mal sah ich das Video auf Instagram. Ich sah es mir mindestens fünf Mal an. Ich sah niemanden dazwischengehen, niemanden dazwischenrufen. Es war, als hätte jemand das Video meiner Kindheitserinnerung vierzehn Jahre später hochgeladen, nur mit anderen Statisten. Es ändert sich nichts. Warum ändert sich nichts, dachte ich.

In den Tagen danach beobachtete ich, wer sich öffentlich zu den Ausschreitungen zu Wort meldete – und wer nicht. Es waren vor allem Albanerinnen und Albaner, die sich empörten, oder bosniakische Genozid-Überlebende, die Konsequenzen für die rassistischen Parolen forderten. Kritische Stimmen aus der serbischen Diaspora waren kaum zu vernehmen. Warum eigentlich?

Die Antwort auf diese Frage fällt bitter aus, egal wie man sie beantwortet. Denn entweder viele von ihnen teilen die Meinung dieses kleinen, rassistischen Mobs. Oder aber (das halte ich für wahrscheinlicher) sie glauben, es hat nichts mit ihnen zu tun. Schließlich haben ja nicht sie persönlich auf der Straße zum Mord aufgerufen und das Einzige, was sie mit diesen Männern im Video verbindet, ist ihre Herkunft. Ich kann diese Argumentation verstehen, sie ist sicher die richtige Antwort, wenn es um die Frage der persönlichen Schuld geht. Und schuldig machen sich eben die, die sich rassistisch verhalten, und nicht die, die zufällig ähnliche Namen tragen. Alles andere wäre Sippenhaft.

Ich glaube nur, dass die Schuldfrage nicht die ist, die uns weiterbringt. Viel wichtiger erscheint mir die Frage nach der Verantwortlichkeit. Wer ist verantwortlich dafür, dass so etwas passieren kann – oder eben nicht mehr passiert? Stellt man die Frage nämlich so, ist man gezwungen, den Blick von den Tätern weg in ihr unmittelbares Umfeld, in die Gesellschaft zu lenken, in der sie die meiste Zeit verbringen. Und das ist nun mal in diesem Fall die serbische Diaspora. Warum fühlen sich diese jungen Männer offenbar sicher genug vor den Augen "ihrer Community", mitten in Wien, öffentlich zum Mord aufzurufen? Warum geht niemand dazwischen? Warum widerspricht kaum jemand?

Es ist eine Ironie, dass ausgerechnet Selma Jahić, selbst Muslima und Überlebende des Genozids in Srebrenica, eine Frage aufwirft, die sich vor allem Menschen mit serbischen Wurzeln dieser Tage stellen sollten. Auf Instagram schrieb sie: "Nach solchen Szenen frage ich mich, was bei uns in der Diaspora schiefläuft?"

Notwendige Veränderung

Diese Frage ist auch eine Aufforderung, ein Wunsch. Er bezieht sich nicht nur auf die Kinder von Serbinnen und Serben, sondern auf die gesamte exjugoslawische Diaspora in Österreich. Es ist der Wunsch nach Veränderung, die nur von einer neuen, mutigen, nächsten Generation angetrieben werden kann. Serbinnen und Serben wie Kroatinnen und Kroaten, die sich trauen, sich einzumischen, die den rassistischen Parolen ihrer Eltern widersprechen, mit ihnen streiten und es selbst besser machen. Eine Generation, die endlich aufhört, Kriegsverbrecher zu verherrlichen. Die nicht glaubt, andere abwerten zu müssen, um selbst wertvoll zu sein. Die dazwischengeht und dazwischenruft und verlorenen 13-jährigen Teenagern künftig als Vorbild dienen kann.

Und wenn dann auch noch eine Politik dazu kommt, die das aktiv fördert, dann kann sich vielleicht sogar wirklich endlich etwas ändern.

So oder so: Es wird Zeit. (Marija Barišić, 7.12.2022)