Ukrainische Soldaten mit einer französischen Caesar-Kanone.

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Dass die Ukraine gegen die zahlenmäßige Übermacht Russlands bestehen und sogar kontern kann, verdankt sie ihrer Entschlossenheit und ihren Soldaten, aber auch den westlichen Waffenlieferungen. Und zwar an allen Fronten. 8.500 Panzerabwehrraketen des Typs Javelin stoppten den russischen Vormarsch auf die Hauptstadt Kiew. 1.600 Stinger-Luftabwehrraketen kompensierten den Mangel an ukrainischen Kampfjets.

In dem faktischen Artilleriekrieg entscheiden die 140 amerikanischen M777-Haubitzen manches Gefecht. Und im Osten schlagen 20 Mehrfachraketenwerfer namens Himars – eine moderne Version der "Stalinorgeln" im Zweiten Weltkrieg – die Russen aus dem Feld. Und nicht zu vergessen: Zu all diesen Waffen lieferten die Amerikaner allein bisher mehr als eine Million Granaten von 105 bis 155 Millimeter Durchmesser.

Es ist unbestreitbar: Ohne diese eigentliche Schützenhilfe hätte die Ukraine dem russischen Ansturm nicht standgehalten. Dieser Erfolg hat seinen Preis. Mit dem letzten, noch hängigen Aufstockungsantrag von Präsident Joe Biden wird der US-Kongress schon mehr als 100 Milliarden US-Dollar an Rüstungshilfe zugesagt oder geleistet haben. Aus Europa kommen ebenfalls Milliarden Euro zusammen.

Raketen in Südkorea nachbestellt

Aber langsam reißen die Waffenlieferungen Lücken in die Bestände. Bei neuen M777-Lieferungen können die Amerikaner nicht mehr auf ihre Reserven zurückgreifen, sondern müssen sich in den Armeebeständen bedienen. Stinger-Raketen müssen sie im eigenen Land, 155-Millimeter-Raketen in Südkorea nachbestellen. Auch die Lieferung zusätzlicher Himars-Systeme wird Monate in Anspruch nehmen.

In Europa sieht es ähnlich aus, wenn man von der speziellen Gemengelage Österreichs oder Deutschlands absieht. Frankreich hat zum Beispiel 18 Caesar-Kanonen geliefert, die bei der ukrainischen Armee sehr geschätzt sind. Präsident Emmanuel Macron hat Kiew weitere Exemplare versprochen. Rüstungsexperten und Politiker debattieren aber, ob diese nicht für die eigene Armee gebraucht würden.

Frankreichs vorgeschobene Front

Das behauptet die rechtspopulistische Putin-Versteherin Marine Le Pen aus durchsichtigen Gründen. Der Strategieexperte Pierre Haroche entgegnet, dass das ukrainische Schlachtfeld auch für Länder wie Frankreich als vorgeschobene Front zu verstehen sei. Mit anderen Worten: In der Ukraine schützten die Caesar-Kanonen auch französische Interessen.

Unbestritten ist unter Nato-Experten, dass der Ukraine-Krieg die Schwachstellen nicht nur der russischen, sondern auch der westlichen Armeen aufzeigt. Seit dem Ende des Kalten Krieges hätten die "asymmetrischen Konflikte" gegen Terroristen oder schwache Armeen wie im Irak zum "Abbau gewisser Kapazitäten" geführt, gestand der französische Generalstabschef Thierry Burkhard bei einer Anhörung in der französischen Nationalversammlung.

Prinzip "Technologie statt Quanität"

Auch Yohann Michel vom Internationalen Institut für strategische Studien (IISS) meinte: "Erst jetzt setzt sich die Erkenntnis durch, dass wir zu stark auf das Prinzip 'Technologie statt Quantität' gesetzt hatten." Die Lagerbestände seien für einen kurzen, im Jargon "hochintensiven" Krieg gedacht. Aber nicht für einen langen Artilleriekrieg wie in der Ukraine, in dem an einzelnen Tagen bis zu 60.000 Raketen abgeschossen würden. "Das erklärt einige Engpässe", sagte Michel.

Die Rüstungsproduktion neu anzuwerfen ist allerdings nicht so einfach. US-Konzerne wie Raytheon oder Lockheed Martin bleiben paradoxerweise vorsichtig. Sie befürchten, dass nach einem Kriegsende die Aufträge wieder in sich zusammenfallen könnten; dann müssten die neu eingestellten Arbeiter wieder entlassen werden.

Außerdem hängt heute die gesamte Rüstungsindustrie an vielen kleinen Zulieferern – und nicht alle sind bereit oder in der Lage, die Produktion hochzufahren. In Paris hat das Verteidigungsministerium eruiert, dass von den 4.000 Rüstungsfirmen des Landes 200 außerstande sind, ihre Produktion zu steigern. Sie bremsen die "Kriegswirtschaft", die Macron in bewusster Dramatisierung beschworen hat. (Stefan Brändle aus Paris, 8.12.2022)