Der mutmaßliche Drahtzieher wird im Zuge der Razzia in Frankfurt abgeführt.

Foto: APA/dpa/Boris Roessler

Mit Schaudern denkt man, nicht nur in den USA, an den 6. Jänner 2021 zurück – jenen denkwürdigen Tag, an dem der Kongress in Washington von einem wütenden Mob gestürmt wurde. Die Bilder dieser Gestalten, die im Machtzentrum der stärksten Demokratie der Welt hemmungslos wüten konnten, brannten sich in das kollektive Gedächtnis dies- und jenseits des Atlantiks ein.

Während man in den Vereinigten Staaten immer noch mit der Aufarbeitung dieses nationalen Traumas beschäftigt ist, trieb die Regierungen in Europa zunächst eine Frage um: Könnte das auch bei uns passieren? Zwar warnten Sicherheitsbehörden danach immer wieder vor einer wachsenden Gewaltbereitschaft in rechten und Verschwörungskreisen, entfacht unter anderem durch die Corona-Pandemie mitsamt staatlichen Schutzmaßnahmen, doch eine akute Gefahr schien nicht gegeben zu sein. Mögliche Umsturzfantasien blieben, wenn überhaupt, im Anfangsstadium stecken.

Doch das, was nun angesichts der Großrazzia gegen Reichsbürger in Deutschland, aber auch in Italien und Österreich ans Tageslicht kommt, ist eine ganz andere Kategorie. Bewahrheiten sich die Medienberichte, so hatte das mutmaßliche Terrornetzwerk rund um einen deutschen Adeligen tatsächlich die finanziellen Mittel, die Waffen, mit ehemaligen Elitesoldaten das Know-how und über eine ehemalige AfD-Abgeordnete auch den Zugang, um den Deutschen Bundestag zu stürmen.

Unruhen provozieren

Das wäre aber, so der Plan, nur der Anfang gewesen. In der Folge wollte die Gruppierung Politiker festnehmen, um Unruhen in Deutschland zu provozieren. In diesem Chaos, so ihre Vorstellung, hätten sich Teile der Sicherheitskräfte auf ihre Seite gestellt, um einen Umsturz zu ermöglichen und eine eigene Regierung zu installieren. Auch dafür hatte sich das Reichsbürger-Netzwerk schon vorbereitet.

Solche Pläne kennt man sonst nur von Dystopien aus Film, Fernsehen oder Literatur – und eben aus Verschwörungskreisen. Dass sie nun die Nachrichten dominieren, dass sie vorstellbar sind und zumindest zum Teil hätten realisiert werden können, löst wieder ein Schaudern aus. Noch mehr, da diese Gruppierung offenbar schon im Frühling und dann im Herbst zuschlagen wollte.

Viele offene Fragen

Dass dem nicht so war, ist ein Glück. Warum es so kam, muss gründlich aufgearbeitet werden. Aber warum sind die Sicherheitsbehörden dann nicht früher eingeschritten? Und hätten sie die Stürmung des Bundestages im Fall der Fälle verhindern können? Viele Fragen gibt es, die die Behörden zu beantworten haben, vor allem auch die, wer noch mit dieser Gruppe kooperiert oder zumindest sympathisiert hat.

Am riesigen Umfang dieser Razzia lässt sich auf alle Fälle klar erkennen, wie ernst die Behörden die Umsturzpläne nahmen. Das beruhigt zumindest teilweise. Doch heißt es, auf der Hut zu bleiben – und sich im Zweifel an den 6. Jänner 2021 zu erinnern. (Kim Son Hoang, 7.12.2022)