Corona-Lockdowns und strenge Maßnahmen trafen Musikerinnen und Musiker hart.
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Im Gegensatz zum Geschmacksverlust soll eine Störung des Gehörs ein eher seltenes Symptom von Covid-19 sein. Das ist insofern erfreulich, als es unter anderem die Musik war, die vielen Menschen Trost in den Corona-Jahren gab. Dieses Phänomen inspirierte auch Marie Louise Herzfeld-Schild von der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien zu ihrem aktuellen Forschungsvorhaben, das diesen Herbst gestartet ist: In den nächsten fünf Jahren will sie mit ihrem Team untersuchen, inwieweit vorherige Pandemien die Musikkultur der jeweiligen Epoche geprägt haben.

Virale Historie

Herzfeld-Schild kann so ihre unterschiedlichen Forschungsinteressen bündeln: "Das Zusammenwirken von Musik und Emotionen in medizinischen Kontexten steht seit über zehn Jahren im Fokus meiner Forschung. Damit einher geht die Frage, wie wir dieses Zusammenwirken historisch verstehen können und wie die Unterschiede zu unserer Gegenwart eigentlich zu beschreiben sind."

Der zündende Funke für das vom Europäischen Forschungsrat (ERC) geförderte Projekt "Going Viral" sprang bei der Professorin des Instituts für Musikwissenschaft und Interpretationsforschung über, als sie die Balkonkonzerte im Zuge des ersten Lockdowns in Wien beobachtete. Angesichts deren breiter Rezeption und erster Vergleiche mit zurückliegenden Pandemien in der Diskussion stellte sie fest, dass es eigentlich an historischen Kenntnissen über den Musikgebrauch in diesen Seuchenphasen mangelt: "Ich habe gemerkt, wie wenig wir eigentlich wissen und dass wir gar keine richtige Terminologie haben, um über diese Fragen zu sprechen."

Corona, Pest und Cholera

Diese kollektive Wissenslücke möchte sie daher nun versuchen zu schließen: In den Blick genommen werden dazu die drei großen bekannten Pandemien der Geschichte vor Corona — die Pest im späten 17., die Cholera im 19. und die Spanische Grippe im frühen 20. Jahrhundert. Es geht in diesem Projekt aber nicht darum, Kompositionsanalyse zu betreiben. Die Frage, ob in solch schweren Phasen die Partituren vor allem in Moll gefärbt sind, stelle sich nicht. Eher gehe es um die Dimensionen der sozialen Praxis Musik. "Es soll um alle möglichen Aspekte gehen, wo Musik emotional relevant ist — das beginnt schon dabei, wie über Musik gesprochen wird."

Diese in Textform erhaltenen musikalischen Diskurse werden analysiert. Das beginnt bei musiktheoretischen Abhandlungen und geht über medizinische Schriften bis hin zu theologischen Abhandlungen: Herzfeld-Schild verweist dabei etwa auf Überlegungen, die einen Zusammenhang zwischen dem Auftreten von Pandemien und bestimmten Sternbildern postulierten.

Um Mitmenschen zu schützen, verlagerte sich das Musizieren in Pandemiezeiten oft ins Private.
Foto: AP/Bruna Prado

Astronomischer Schutzzauber

In diesem Zusammenhang glaubten manche Denker, dass man durch Musizieren solche astronomischen Konstellationen beeinflussen und den Ausbruch von Krankheiten abwenden kann— mancher hielt die Musik also offenbar für einen Schutzzauber. Herzfeld-Schild betont in diesem Kontext, dass das Projekt sich eine derartig naive Sicht auf die Musik nicht aneignen wolle.

"Heutzutage halten viele Musik für einen positiven Gruppenmechanismus in Pandemien und in medizinischen Krisen. Ich bin aber überzeugt davon, dass das nicht immer so war und Menschen in manchen Situationen Musik ganz stark negativ und mit Angst besetzt wahrnehmen."

Skelett am Klavier

Das wird sich womöglich zeigen, wenn das Projekt neben den theoretischen Diskursen die musikalische Praxis in den Blick nimmt. Hierbei berührt man nämlich das kollektive Wissen von damals über die Ausbreitung von Seuchen: Da schnell klar war, dass die Pest sich dort unkontrolliert ausbreitete, wo Menschen zusammenkamen, wurde das gemeinsame Spiel stark eingeschränkt und vor allem die Aufführung von Kirchenmusik massiv reglementiert. Als drastische Maßnahme wurden sogar Instrumente von Infizierten häufig verbrannt.

Insbesondere fahrende Musiker werden in zeitgenössischen Darstellungen als todbringende Gefahr gezeichnet, die die Pest von Stadt zu Stadt bringen — aber nicht nur sie selbst, sondern genauso ihr Arbeitsmaterial: Die Notenpapiere, die sie im Beutel hatten, wurden ebenfalls als ansteckend und gefährlich betrachtet. Eine Illustration von 1680, die den Tod als klavierspielendes Skelett zeigt, fügt sich konsequent in dieses Bild von den musizierenden Unheilbringern. "Da sind an ganz vielen verschiedenen Ecken und Enden Angstmomente zu finden."

Hausmusik und Bälle

Dennoch verstummt die Musik in solchen Krisen nicht, sondern verlagert sich ins Private – vor allem in späteren Epochen, in denen sich die technischen Reproduktionsmöglichkeiten deutlich verbessert haben: So beförderte die Spanische Grippe durch den Zwang, zu Hause zu bleiben, den Boom jener Abspielgeräte, mit deren Hilfe man Musik statt im Konzertsaal in den eigenen vier Wänden hören konnte.

Ein ähnliches Phänomen sei auch hinsichtlich der Cholera zu beobachten: So hat Herzfeld-Schild die Hypothese, dass die Hausmusikbewegung der 1830er-Jahre damit im Zusammenhang steht. Die Cholera sticht aufgrund der unterschiedlichen Ansteckungssituation ein bisschen aus dem Vergleich heraus. Schließlich stellte die Wissenschaft seinerzeit bald fest, dass sich die Krankheit nicht von Mensch zu Mensch, sondern durch das Wasser übertrug. Versammlungen stellten da keine Gefahr mehr für die Gesundheit dar.

Daraufhin sollen etwa in Wien zahlreiche Bälle und Konzerte veranstaltet worden sein, um Geld für die Krankenversorgung einzuspielen. Dort wurde wohl auch jener Walzer gespielt, den Johann Strauß bereits zum Beginn des Cholera-Ausbruchs komponiert hatte. Sein Titel: Heiter auch in ernster Zeit. (Johannes Lau, 7.12.2022)