"Senator Reverend Warnock" nennt den Mann, der in der Nacht zum Mittwoch den 51. Senatssitz für die Demokraten verteidigt hat, sein Büro – und ist damit schon mittendrin in jener Eigenheit, die Raphael Gamaliel Warnock, Senator aus Georgia, ausmacht. Wie kaum ein anderer verbindet der 53-Jährige zwei scheinbar schwer vereinbare Eigenschaften. Warnock ist idealistischer Pastor, der in Reden oft in poetischen Auslegungen der Heiligen Schrift versinkt, gelegentlich auch in stark religiös verschlüsselten Phrasen. Warnock ist auch, knapp zwei Jahre nach seiner ersten Wahl zum US-Senator, noch immer leitender Pastor der Ebenezer Baptist Church in Atlanta, einem Zentrum der Bürgerrechtsbewegung mit durchaus radikalen Forderungen, das einst von Warnocks großem Vorbild Martin Luther King geführt wurde. Warnock ist aber auch ein durch und durch pragmatischer Politiker, der es versteht, einer gemäßigt konservativen, mehrheitlich weißen Wählerschaft als moderater Senator zu erscheinen. Und schließlich ist Warnock ein Intellektueller, der von all diesen scheinbaren Gegensätzen fasziniert ist, und ihnen einst seine Doktorarbeit gewidmet hat.

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Raphael Warnock, Prediger und Politiker.
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In der Praxis schlägt sich dieser mehrfache Balanceakt in Sätzen nieder, die geschrieben und aus dem Zusammenhang gerissen fast schon absurd erscheinen. US-Medien werden nicht müde, beispielhaft eine Redepassage zu zitieren, die Warnock in seiner Wahlkampagne mehrfach von sich gegeben hat. Es geht dabei um ein Straßenprojekt zwischen Texas und Georgia, das er gemeinsam mit dem konservativen Republikaner Ted Cruz vorantrieb. Es ist eine parteiübergreifende Kooperation zwischen zwei politischen Feinden, die aber zum beiderseitigen Vorteil ist, weil sie Arbeitsplätze in beiden Bundesstaaten schafft.

Eine pragmatische Sache, könnte man sagen. Hört man Warnock zu, ist die Angelegenheit anders. "Infrastruktur ist etwas Spirituelles", sagte er in seiner Kampagne immer wieder. "Menschen, die in unterschiedlichen Kirchen, Synagogen, Moscheen beten, Arbeitgeber und Arbeitnehmer – sie alle nutzen dieselben Straßen. Straßen sind es, die unsere Menschlichkeit verbinden." Anderen Politikern würde man das nicht abnehmen, oder man hielte es, vielleicht zu Recht, für kitschig und übertrieben – bei Warnock aber sitzt jedes Wort.

Praktika bei den Bürgerrechtlern

Zum zweiten Mal in zwei Jahren hat er es damit geschafft, als relativ liberaler, schwarzer Pastor in Georgia eine Mehrheit zu erlangen – in jenem einstigen Südstaat, der zwar mit seiner wachsenden städtischen und afroamerikanischen Bevölkerung immer mehr den Demokraten zuneigt, strukturell aber noch immer eine republikanische Mehrheit hat. Erst vor wenigen Wochen, als Warnock seinen republikanischen Gegner Herschel Walker mit 49,4 zu 48,4 Prozent in die Stichwahl zwang, stimmten dieselben Wähler mit 53,4 Prozent für eine weitere Amtszeit des republikanischen Gouverneurs Brian Kemp.

Warnock, geboren als elftes von zwölf Kindern seiner ebenfalls im Nebenjob als Pastoren tätigen Eltern, aufgewachsen in sozialen Wohnprojekten in Savannah, der später mithilfe staatlicher Unterstützungsprojekte und kirchlicher Nachbarschaftshilfe studieren konnte – er hat gelernt, zugleich mit konservativen weißen Nachbarn zu kommunizieren und glaubhaft die Anliegen seiner mehrheitlich schwarzen Kirchgänger zu vertreten. Unklar ist, wann dabei die Entscheidung für den Weg in die Politik gefallen ist, denn Warnocks Karriere war zunächst vor allem eine kirchliche, wenn auch mit fließendem Übergang zur Bürgerrechtsbewegung.

Praktika bei einer bekannten Baptistenkiche in Birmingham, Alabama, später Jugendseelsorge in der Abyssinain Church in New York, waren die Stationen, seit 2005 die Leitung der Ebenezer Baptist Church in Atlanta. Dazwischen wird Warnock mehrfach verhaftet, 2000 bei einer Demonstration gegen Polizeigewalt, später, als er sich für Zugang zur Krankenversicherung einsetzt.

Teflon-Reverend

Irgendwann beginnt er dazwischen in Predigten auch sein Profil zu schärfen. Er bekennt sich zum Recht auf Abtreibung – die er als Privatangelegenheit betrachtet, bei der der Staat nichts zu sagen habe –, er kritisiert Lockerungen des Waffenrechts, die auch in Kirchen gelten ("diese Leute können nie bei einer Kirchendebatte gewesen sein"), er wettert gegen die Todesstrafe, die er "staatlich sanktionierten Mord" nennt und als "letzte Sollbruchstelle weißen Überlegenheitsdenkens" bezeichnet.

2013 tritt er auch als Prediger bei der Messe zur zweiten Angelobung Barack Obamas in Erscheinung. 2016 spielt er angeblich mit dem Gedanken, zur Wahl anzutreten, entscheidet sich aber dagegen. 2020, als der bisherige republikanische Senator Johnny Isakson krankheitshalber in Pension gehen muss und die Republikaner relativ schwache Kandidatinnen aufstellen, sieht er seine Chance in der Zwischenwahl gekommen.

Warnock feierte die Wahl Dienstagnacht mit Tochter Chloe und Sohn Caleb.
Foto: Reuters / Barria

Seine Gegnerin Kelly Loeffler versucht Warnock dann im Wahlkampf als Radikalen zu brandmarken, berichtet auch über die Vorwürfe, die es gegen ihn gibt. Einst war er von der Polizei verhört und als unkooperativ beschrieben worden, als diese im Jahr 2000 Kindesmissbrauchsvorwürfe in einem kirchlichen Sommercamp untersuchen wollte.

Warnock rechtfertigt sich damit, dass er nur darauf bestanden habe, dass bei der polizeilichen Befragung jugendlicher Beschuldigter ein Anwalt zugegen sei. Die Polizei nahm die Vorwürfe später zurück. 2020 warf ihm seine Ex-Frau, mit der er in Scheidung lebt, vor, ihr beim Abholen der zwei gemeinsamen Töchter mit seinem Tesla über die Füße gefahren zu sein, und bezeichnete ihn als "guten Lügner". Die Polizei klagte ihn nicht an, Mediziner fanden an den Füßen seiner Ex-Frau keine Verletzungsspuren.

Zwischen 5. und 6. Jänner

Verfangen hat jedenfalls keiner der Vorwürfe. Warnock entgegnete ihnen geschickt, stellte sich als gemäßigt dar, trat meistens in Strickjacken und gepolsterten Westen auf, nahm einen Werbespot auf, in dem er mit einem Beagle durch eine wohlhabende Gegend spazierte und sich über die Vorwürfe des Radikalismus gekonnt lustig machte. Dass der Beagle ein Leihhund war und nicht Warnock gehörte – kaum jemand nahm davon Notiz.

Am 5. Jänner 2021 gewinnt Warnock die Stichwahl gegen Loeffler, am 6. Jänner stürmen radikale Anhänger Donald Trumps das Kapitol. Warnock, der Prediger, wird das später als Zeichen deuten. Als Nation lebe man zwischen der Hoffnung und den Gefahren für das Zusammenleben, "zwischen dem 5. und dem 6. Jänner", wie er sagt.

Die Wiederwahl 2022 gelingt ihm, wenn man im Bild bleiben will, eher mit dem 5. Jänner. Obwohl die Republikaner mit dem begeisterten Trumpisten und ehemaligen Footballstar Herschel Walker einen skandalträchtigen Gegner aufstellen, bleibt Warnock in seiner Kampagne auf die eigenen Stärken bezogen: Er betont pragmatische Projekte wie den Bau der Straße nach Texas, Hilfe für militärische Einrichtungen in Georgia, bringt ein Gesetz zur zusätzlichen Finanzierung von Polizeistellen im ländlichen Georgia aufs Tapet.

Wird er zu Walkers Verfehlungen befragt, geht er den Gelegenheiten eher aus dem Weg. Abzustimmen sei Sache der Wählerinnen und Wähler, Auswirkungen beurteilten sollten die Expertinnen und Experten, sagt er. Erst in den letzten Tagen der Wahl macht er deutlicher, dass es Walker an Ernsthaftigkeit und Erfahrung fehle, um Georgia im Senat zu vertreten. Dafür kommt auch der Beagle wieder zum Einsatz.

Knapp drei Prozentpunkte sind es am Ende, die Warnock, den Sieger, von Walker trennen. Sechs Jahre lang wird er seinen Bundesstaat nun im Senat vertreten. Nach seinem Sieg sind allerdings auch erste Fragen dazu aufgekommen, ob sich der "Senator Reverend" nicht auch für höhere Weihen empfehlen würde. (Manuel Escher, 7.12.2022)