Wolf Prix zählt zu den wichtigsten Vertretern des Dekonstruktivismus.

Foto: Heribert CORN

STANDARD: In Ihren jungen Jahren haben Sie gesagt: "Architektur muss brennen." Muss sie das, wenn man 80 ist, immer noch?

Prix: Freilich! Die meisten glauben, dass wir wirklich Feuer legen wollen, aber das wollen wir natürlich nicht. Im übertragenen Sinne muss Architektur aber auf jeden Fall Emotionen erzeugen.

STANDARD: Brennen Ihre Häuser?

Prix: Erstens bauen wir keine Häuser, sondern Architektur. Und zweitens brennt unsere Architektur im übertragenen Sinne hoffentlich auch heute noch. Allerdings hat sich in den letzten Jahrzehnten die Entwurfsmethodik stark verändert, verbessert, wenn man so will. Der Anspruch an das emotionale Erlebnis besteht nach wie vor. Leider ist die Architekturkritik oft hohl, weil die, die darüber schreiben, dieses innerliche Brennen nicht nachvollziehen können, weil sie Bauwerke nur anhand von Fotos beschreiben, ohne je dort gewesen zu sein. Das ist meine Kritik an der Kritik.

STANDARD: Wenn wir uns damit angesprochen fühlen sollten, müssen wir die Kritik zurückweisen. Wir schreiben unsere Geschichten stets warm, also mit dem realen Erlebnis vor Ort.

Prix: Warm? So heißt das bei euch? Das passt ja zum Brennen! Aber eure Geschichten brennen nicht immer. Manchmal lesen sie sich ein bisschen lauwarm.

STANDARD: Danke für das Feedback. Sprechen wir jetzt über Sie oder über uns? Wir sind hier, um Sie anlässlich Ihres 80. Geburtstags zu interviewen.

Prix: Danke für die Erinnerung.

STANDARD: Was wurde aus den "jungen Wilden", wie Sie sich damals genannt haben? Wird man zu einem alten Wilden? Oder doch zu einem jungen Gemäßigten?

Prix: Heute bin ich gelassener. Ich ärgere mich nicht mehr über unsere Fehler und die Fehler der anderen, sondern ich ärgere mich gar nicht mehr, ich lache gerne, ich habe immer noch Humor! Allerdings wurde früher mehr gelacht, die Architekten waren lustiger und frecher, die Medien waren provokant, die Gesellschaft war offener. In den letzten Jahren ist alles ernst geworden, man versteht keinen Spaß mehr. Vielleicht liegt das auch an den Architektenverträgen, die immer dicker und umfangreicher werden. Die Auftraggeber delegieren an die Architekten die gesamte Verantwortung, entziehen ihnen aber gleichzeitig die Macht, die Verantwortung zu tragen.

STANDARD: Apropos Provokation: Die Rolling Stones galten früher als Rebellen, heute füllen sie Stadien für die ganze Familie. Auch Sie waren ein frecher Rebell, heute bauen Sie für Zentralbanken und Regierungen. Sehen Sie hier Parallelen?

Prix: Kann sein, dass es hier tatsächlich Parallelen gibt. Auch die Karriere eines bauenden Architekten wandelt sich mit der Zeit. Stellen Sie sich vor, ich würde heute das Gleiche planen wie 1968, als wir mit unseren Gedankenräumen eine neue Lebensweise wecken wollten. Das ist heute unvorstellbar! Mit dem Bauen und Realisieren und mit dem Älterwerden geht man mit der Kraft ökonomischer um. So ist das. Um diese Erfahrung kommt man nicht herum.

STANDARD: Gemeinsam mit Ihren Zeitgenossen – mit Zünd-up, Missing Link und Haus-Rucker-Co – haben Sie in den 1960er-Jahren an der Verbesserung der Welt gearbeitet. Die Projekte Ihrer Generation zeichnen sich durch Utopie und Optimismus aus. Was wurde aus den damaligen Visionen?

Prix: Ich sage gerne, dass wir verloren haben. Die Idee der optimistischen Gedankengebäude war nicht durchsetzbar. Der Unterschied ist nur, dass wir damals das zukünftige Leben völlig neu definiert haben! Heute ist die Lebensqualität einer Stadt nichts anderes als ein neues Biedermeier: Rückzug in die Ego-Privatheit, Rückzug aus dem öffentlichen Raum, Rückzug in die Gemütlichkeit, auf dem grünen Balkon im Liegestuhl sitzend, mit einer Flasche Bier in der Hand, die romantische Scheinrealität einer grünen Stadt. Wo sind die zukünftigen innovativen Lebenskonzepte?

STANDARD: Kann Architektur den Menschen zu einem besseren Menschen machen?

Prix: Nie im Leben. Architektur kann eher verhindern auf dem Weg zu einer Selbstbestimmung.

STANDARD: Wie meinen Sie das?

Prix: Ein unbegabter Maler wird in einem lichtdurchfluteten Atelier nicht besser malen als in einem dunklen.

STANDARD: Das klingt traurig.

Prix: Nein, das ist ein Anspruch, Architektur zu planen, in der wir alle unsere Fähigkeiten ausleben können, wenn wir wollen.

STANDARD: Gelingt das?

Prix: Natürlich. Ich geben Ihnen ein Beispiel, vor zwei Jahren haben wir einen Zubau für die Rock ’n’ Roll Hall of Fame in Ohio geplant. Die Idee war, einen Song der Rolling Stones in Architektur zu übersetzen, und zwar "Gimme Shelter". Ein sehr komplexer Anspruch, aber mit den neuen Entwurfsmethoden ist uns das gelungen.

STANDARD: Wir würden gerne wieder etwas materieller werden und über Ressourcenschonung und Kostenexplosion bei den Materialien reden. Immerhin steht die Bauwirtschaft heute als CO2-Sünder am Pranger.

Prix: Oje, schon wieder diese blödsinnige Feststellung.

STANDARD: Wissen Sie, wo der Stahl für Ihre Museen und Ihre Konferenzzentren herkommt?

Prix: Nein, das weiß ich nicht. Muss ich auch nicht. Die immer größer werdenden Zwänge im Architekturprozess verleiten die Architekten zu vorauseilendem Gehorsam. Die Architektur wird zur Zwangsarchitektur. Was ich aber weiß, ist, dass der Stahl für die BMW-Welt in München damals aus Russland kam und wieder zurückgeschickt werden musste, weil er den technischen Anforderungen in Deutschland nicht entsprochen hatte. Aber ich mag diese Diskussionen nicht. Denn wenn wir von Materialverschwendung sprechen, dann müssen wir schon die Architekturindustrie mit der Waffenindustrie vergleichen.

Wir bauen Waffen aus Unmengen von Stahl, die nur einen einzigen Zweck haben: Zerstörung. Und wir bauen Kampfflugzeuge, wovon eines so viel kostet wie das Musée des Confluences in Lyon, und nach spätestens fünf Jahren wird es abgeschossen. Das müssen wir vergleichen! Vergleichen wir doch den CO2-Ausstoß des Kriegs in der Ukraine mit dem CO2-Ausstoß von unseren Kulturbauten auf der Krim. Darüber müssten wir sprechen!

Und was tun die Architekten? Anstatt sich zu wehren und Stellung zu beziehen, sind sie wie die Lemminge.

STANDARD: Das heißt?

Prix: Wir schneiden uns den Ast, auf dem wir sitzen, nicht mit der Säge ab, sondern mit der Motorsäge.

STANDARD: Als zukunftsfähig und erstrebenswert gilt heute eine Architektur, die sich mit der Herkunft der Baustoffe beschäftigt und den ökologischen, klimatischen und vor allem sozialen Benefit über die gestalterische Entwurfsleistung stellt. Große skulpturale Gesten werden als Architektur der Verschwendung bezeichnet.

Prix: Räume für die Weitergabe des Wissens und der Kultur können niemals Verschwendung sein.

STANDARD: Als Diébédo Francis Kéré heuer den Pritzker-Preis gewonnen hat, haben einige Architekten geätzt, dass die Architektur den Bach runtergeht und nur noch Lehmhütten ausgezeichnet werden. Wie stehen Sie dazu?

Prix: Ich schätze Kéré als Person sehr, aber seine Architektur ist romantisch verklärt, rückwärtsgewandt. Die Art, wie heute mit Architekturauszeichnungen gewirtschaftet wird, ist eine Katastrophe. Besonders jene, die an das Andenken starker Architekten erinnern sollten, beispielsweise der Kiesler-Preis oder der Mies van der Rohe Award. Kiesler war einer der wegweisendsten Architekten, Mies van der Rohe der König der protestantischen Reduktion. Sie würden sich im Grabe umdrehen, wenn sie wüssten, was unter ihren Namen gewürdigt und ausgezeichnet wird! Das ist Jury-Architektur, bei der man sich nicht an den Zielen der genannten Architekten orientiert, sondern die gebaute Mittelmäßigkeit auszeichnet. Das hat nichts mit Innovation und Zukunft zu tun.

STANDARD: Schwingt hier auch eine Enttäuschung mit? Die wirklich großen Erfolge hatten Sie im Ausland. In Österreich ist Coop Himmelb(l)au nur wenig zum Zug gekommen.

Prix: Natürlich nicht. Den Wettbewerb für die Wien Holding Arena in Neu Marx haben wir nicht gewonnen. Den gleichzeitig ausgeschriebenen Wettbewerb für die Arena in St. Petersburg, die gerade fertig wird, aber schon. So ist das. Österreich ist halt ein Zwergpudelland.

STANDARD: Sie haben den Begriff in Interviews schon oft verwendet. Was genau macht denn Österreich zu einem Zwergpudelland?

Prix: Ein Zwergpudel bellt, damit er gefährlicher wirkt, als er ist, aber er beißt nicht. Wir glauben, dass Österreich im Bereich der Kultur unschlagbar ist. Wir haben die Architektur erfunden! Josef Hoffmann hat Le Corbusier beeinflusst, keine Frage! Und Klimt und Kokoschka sind die besten Maler überhaupt! Man vergisst: Während Klimt noch nackte Frauen malte, hat Kandinsky zur gleichen Zeit bereits das erste abstrakte Bild vorgestellt. Das ist eine Überschätzung der Weltgeltung, die ich ununterbrochen erlebe.

STANDARD: Ihre größten und wichtigsten Projekte sind in China entstanden, aktuell bauen Sie in Russland und auf der Halbinsel Krim. 1998 haben Sie in einer Rede in Wien gesagt: "Autoritäre Systeme vertragen keinen Ungehorsam." Wie verträgt sich das?

Prix: Es kommt nicht darauf an, für wen oder wo wir bauen, sondern was wir bauen. Was Russland betrifft, so habe ich alles Relevante schon im "Spiegel"-Interview gesagt. Außerdem sind wir jetzt von der EU sowieso sanktioniert. Wir dürfen nicht mehr für Russland arbeiten, das ist eigentlich ein demokratisches Arbeitsverbot. Die Aufträge in Russland müssen wir daher stoppen. Alle Projekte, die wir in Arbeit haben, Hochhäuser, Theater, Schulen und Kulturzentren, können wir wegwerfen. Toll!

STANDARD: Und auf der Krim?

Prix: Auf der Krim hatten wir nie ein Arbeitsverbot, denn Kulturbauten waren von den Sanktionen ausgenommen. Nun müssen wir auch dieses Projekt stoppen.

STANDARD: Auf der Krim nach 2014 zu bauen dient der Legitimierung einer völkerrechtswidrigen Annexion. Sehen Sie das anders?

Prix: Ein Freund von mir hatte auf der Krim eine Fabrik für Maschinenteile und wurde ebenfalls sanktioniert. Wer, glauben Sie, hat diese Lieferungen übernommen? Ein Amerikaner! Also hören Sie mir auf mit den moralischen und angeblich politischen Darstellungen …

STANDARD: Noch ein Zitat von Ihnen: "Unangepasste Ästhetik ist politische Ästhetik." Sollen Architekten zur Politik schweigen?

Prix: Der Status quo in der Architektur ist noch immer sehr materialschwer, und Gewicht kostet Geld, und wo Geld ist, ist Politik, ob man will oder nicht. Die Frage ist, wie gesagt, nicht, für wen oder wo wir bauen, sondern was man baut.

STANDARD: Die meisten und größten Ihrer Aufträge kommen von autokratischen Regimes. Was macht das mit Ihnen?

Prix: Gar nix. Gegenargument: Ich habe Sympathie für eine Gesellschaft, demokratisch oder autokratisch, die sich erlaubt, auf einen Schlag in sieben Städten Kulturzentren zu bauen. Bei uns heißt es nur: Brauchen wir nicht! Es wird gerne vergessen, dass auch ein François Mitterrand autokratisch entschieden und zahlreiche Großprojekte beauftragt hat. Und ganz ehrlich: Es macht keinen Unterschied, ob man für Autokraten oder für Turbokapitalisten baut. Für Autokraten ist es sogar etwas angenehmer, weil sie nicht jeden Cent berechnet haben wollen, um zu wissen, wie viel sie mit einem Projekt verdienen.

STANDARD: Welche Auswirkungen haben die Russland-Sanktionen auf Ihr Büro?

Prix: Wir arbeiten nun für einen anderen Autokraten und sitzen mit all jenen, die gesagt haben, dass sie für Russland nicht mehr arbeiten wollen, Schulter an Schulter in Saudi-Arabien. Dort planen wir alle an der 170 Kilometer langen Linearstadt Neom. Das ist eine der radikalsten Stadtplanungsideen, eine Mischung aus Le Corbusier und Superstudio.

STANDARD: Im Rückblick auf mehr als 50 Jahre Schaffen: Gibt es etwas, worauf Sie besonders stolz sind?

Prix: Auf drei Dinge: auf den Dachbodenausbau in der Wiener Falkestraße, auf das Musée des Confluences in Lyon und auf das Mocape-Museum in Shenzhen, weil ich bei diesem Projekt Piranesi am nächsten gekommen bin.

STANDARD: Gibt es etwas, was Sie anders machen würden?

Prix: Nein. Aber es gibt natürlich bessere und schlechtere Projekte.

STANDARD: Am 13. Dezember werden Sie 80. Was wünschen Sie sich zum Geburtstag?

Prix: Weiß ich nicht. Das ist ein Tag wie jeder andere. Das ganze Drumherum ist mir völlig egal. Aber ich weiß, dass ich nicht noch weitere 80 Jahre vor mir habe. Und dass ich gewisse Dinge nicht mehr erleben werde, von denen ich als junger Architekt dachte, ich würde sie noch erleben. Zum Beispiel die Projekte in Russland. Oder dass ich noch lerne, Keith Richards' Riff in "Gimme Shelter" spielen zu können.

STANDARD: Gibt es einen Wunsch für die Zukunft?

Prix: Ich habe immer noch den Wunsch, dass wir die großen Probleme der Welt mit Wissen und Optimismus lösen können – und dabei nicht vergessen zu lachen.

STANDARD: Wofür brennt Wolf Prix heute?

Prix: Für die Möglichkeit, Architektur zu bauen, die beweist, dass wir mit manchen Aussagen recht gehabt haben könnten. Und trotzdem: Jeder hat recht, aber nichts ist richtig. (Wojciech Czaja, Maik Novotny, 10.12.2022)