Ganz im Norden Grönlands: Ein zwei Millionen Jahre alter Stamm einer Lärche, die noch im Permafrostboden steckt. Der Baum wurde von den Flüssen in Richtung Meer getragen.
Foto: Svend Funder

Die Halbinsel an der Nordspitze Grönlands ist heute einer der unwirtlichsten Orte auf diesem Planeten. Für Geologinnen und Geologen ist Kap København jedoch von großem Interesse, da sich sich dort einzigartige Sedimente aus der Eiszeit und der Zeit davor im Permafrost erhalten haben. Dadurch werden einzigartige Einsichten in eine Zeit möglich, in der Grönland tatsächlich noch ein Grünland war und Temperaturen herrschten, die wir in den nächsten Jahrhunderten erreichen könnten, wenn wir nicht genug gegen den Klimawandel unternehmen.

Nun konnte ein riesiges internationales Forscherteam um den Evolutionsgenetiker Eske Willerslev, einem der international renommiertesten Experten für alte DNA, diesen Blick in die Vergangenheit ganz dramatisch erweitern und präzisieren. Die 40 Wissenschafterinnen und Wissenschafter aus Dänemark, dem Vereinigten Königreich, Frankreich, Schweden, Norwegen, den USA und Deutschland konnten aus diesen Sedimenten nämlich zwei Millionen Jahre alte DNA-Fragmente entschlüsseln und damit völlig neue Einblicke in das damalige Ökosystem geben.

Von einer Million auf zwei Millionen

Diese Leistung, über die das Team am Mittwoch im Fachblatt "Nature" berichtet, ist einerseits eine ungeahnte Verbesserung bisheriger Möglichkeiten. Denn die mithilfe neuester Technologie entzifferten DNA-Schnipsel sind um nicht weniger als eine Million Jahre älter als der bisherige Rekord für DNA aus einem sibirischen Mammutknochen. Damit wird andererseits auch ein neues Kapitel in der Erforschung früherer Entwicklungen auf der Erde aufgeschlagen.

In den Worten von Eske Willerslev, der Direktor des Geo-Genetik-Zentrums der Uni Kopenhagen ist und eine Professur an der Uni Cambridge innehat: "DNA kann sich schnell zersetzen, aber wir haben gezeigt, dass wir unter den richtigen Umständen weiter in die Vergangenheit zurückgehen können, als man es sich je hätte vorstellen können. Zum ersten Mal können wir die DNA eines vergangenen Ökosystems so weit in der Vergangenheit direkt betrachten."

Eske Willserlev erläutet mit anschaulichen Beispielen die Methode und die Bedeutung der einzigartigen Entdeckungen.
NPG Press

Nahe Grönlands nördlichstem Punkt

Die untersuchten Proben wurden zum Teil bereits 2006 aus der fast 100 Meter dicken Sedimentablagerung entnommen, die in der Mündung eines Fjords im Arktischen Ozean an Grönlands nördlichstem Punkt liegt.

Künstlerische Darstellung der Kap-København-Formation, wie sie heute aussieht.
Illustration: Beth Zaiken

Was man bereits wusste: Das Klima im damaligen Grönland kann zwischen arktisch und gemäßigt beschrieben werden, und es war um zehn bis 17 Grad Celsius wärmer als das heutige Grönland. In einer flachen Bucht türmte sich das Sediment Meter für Meter auf.

Mühselige Rekonstruktionen

Die paläogenetische Detektivarbeit des Teams war extrem mühsam. Zunächst musste festgestellt werden, ob überhaupt DNA im Ton und Quarz verborgen war, und wenn ja, ob es gelang, die DNA aus dem Sediment zu lösen, um sie zu untersuchen. Dabei ging es um Proben, die nur wenige Millionstel Millimeter groß sind. Beides gelang.

Nahaufnahme von organischem Material in den Ablagerungen. Die organischen Schichten zeigen Spuren der reichen Pflanzen- und Insektenfauna, die vor zwei Millionen Jahren in Kap København in Nordgrönland lebte.
Foto: Kurt H. Kjær

Die Forschenden verglichen dann jedes einzelne DNA-Fragment mit umfangreichen DNA-Bibliotheken, die von heutigen Tieren, Pflanzen und Mikroorganismen gesammelt wurden. Es ergab sich ein Bild der DNA von Bäumen, Sträuchern, Vögeln, Tieren und Mikroorganismen.

Einige der DNA-Fragmente waren leicht als Vorläufer heutiger Arten zu klassifizieren, andere konnten nur auf Gattungsebene zugeordnet werden, und einige stammten von Arten, die unmöglich in den DNA-Bibliotheken von heute lebenden Tieren, Pflanzen und Mikroorganismen zu finden sind. Konkret entdeckten die Fachleute in den Proben genetische Nachweise von Tieren, Pflanzen und Mikroorganismen, darunter Rentiere, Hasen, Lemminge, Birken und Pappeln.

Künstlerische Rekonstruktion der Kap-København-Formation vor zwei Millionen Jahren – in einer Zeit, in der es im nördlichsten Grönland deutlich wärmer war als heute.
Illustration: Beth Zaiken

Sie fanden sogar heraus, dass das Mastodon, ein eiszeitliches elefantenähnliches Säugetier, bis nach Grönland wanderte, bevor es ausgestorben ist. Bisher ist man davon ausgegangen, dass sich das Verbreitungsgebiet der Tiere von ihren bekannten Ursprungsgebieten in Nord- und Mittelamerika nicht bis nach Grönland erstreckt.

Von der Vergangenheit für die Zukunft lernen

"Das Ökosystem von Kap København, für das es kein heutiges Äquivalent gibt, existierte bei wesentlich höheren Temperaturen, als wir heute haben", erklärt Co-Autor Mikkel W. Pedersen, der ebenfalls am Geo-Genetik-Zentrum tätig ist. Das mache die neuen Erkenntnisse besonders relevant, da das Klima auf den ersten Blick jenem Klima ähnlich zu sein scheint, das wir aufgrund der globalen Erwärmung in Zukunft auf unserem Planeten erwarten.

"Einer der Schlüsselfaktoren ist, inwieweit die Arten in der Lage sind, sich an die veränderten Bedingungen anzupassen, die sich aus einem erheblichen Temperaturanstieg ergeben. Die Daten legen nahe, dass sich mehr Arten entwickeln und an stark schwankende Temperaturen anpassen können als bisher angenommen", sagt Pedersen: "Entscheidend ist jedoch, dass unsere Ergebnisse zeigen, dass sie dafür Zeit brauchen. Die Geschwindigkeit der heutigen globalen Erwärmung bedeutet, dass Organismen und Arten diese Zeit nicht haben, sodass die Klimakrise eine enorme Bedrohung für die biologische Vielfalt und die Welt bleibt."

Die Forschenden hoffen, dass einige der "Tricks" der entdeckten zwei Millionen Jahre alten Pflanzen-DNA genutzt werden können, um einige gefährdete Arten widerstandsfähiger gegen eine Klimaerwärmung zu machen. In den Worten von Co-Autor Kurt H. Kjær: "Es ist möglich, dass man gentechnisch jene Strategien nachahmt, die Pflanzen und Bäume vor zwei Millionen Jahren entwickelt haben, um in einem durch steigende Temperaturen gekennzeichneten Klima zu überleben, um das Aussterben einiger Arten, Pflanzen und Bäume zu verhindern."

Alte DNA aus Afrika?

Für Eske Willerslev öffnet der spektakuläre Durchbruch vielleicht noch ganz andere Möglichkeiten – nämlich die Analyse alter DNA aus Afrika: "DNA überlebt im Allgemeinen am besten unter kalten, trockenen Bedingungen, wie sie während des größten Teils des Zeitraums herrschten, in dem das Material am Kap København abgelagert wurde." Nachdem nun erfolgreich alte DNA aus Ton und Quarz extrahiert werden konnte, sei es nicht auszuschließen, dass Ton in warmen, feuchten Umgebungen an Fundorten in Afrika ebenfalls alte DNA erhalten hat.

"Wenn wir damit beginnen können, alte DNA in Tonkörnern aus Afrika zu erforschen, können wir vielleicht bahnbrechende Informationen über den Ursprung vieler verschiedener Arten sammeln", sagt Willerslev, "und vielleicht sogar neue Erkenntnisse über die ersten Menschen und ihre Vorfahren. Die Möglichkeiten sind endlos." (Klaus Taschwer, 7.12.2022)