Proteste in Teheran Mitte September.

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Es ist ein schrecklicher Tag für die Protestbewegung im Iran: Schon viele Demonstranten und Demonstrantinnen wurden seit Mitte September getötet, aber zum ersten Mal hat der Gewaltapparat in diesem Zusammenhang einen Menschen hingerichtet. Mohsen Shekari wurde 23 Jahre alt. Jeder weiß, dass er nicht der Letzte sein wird. Das Regime glaubt selbst nicht, dass sein unter Folter erzwungenes öffentliches Geständnis jemanden überzeugt. Es soll Terror verbreiten.

Angesichts des Schreckens mag man instinktiv Trost beim Gedanken suchen, dass sich die Islamische Republik das eigene Grab gräbt, mit jedem und jeder einzelnen Toten. Dann setzt die historische Reflexion ein. Wie viele Tausend Iraner und Iranerinnen 1988 bei der "Säuberungswelle" am Ende des Iran-Irak-Kriegs hingerichtet wurden, ist nicht einmal genau bekannt. Und gute zehn Jahre später, 1999, gab es die ersten Proteste, von denen man dachte, sie wären der Anfang vom Ende des Systems.

Im Gegenteil, im Herbst 2022, 43 Jahre nach der Revolution und 34 nach Ende des Krieges, bei dem etwa eine Million Iraner auf dem Schlachtfeld starben, bäumt sich die Generation der alten Ideologen mithilfe einer neuen Klasse von streng Indoktrinierten wieder auf. Gleichzeitig liegt gerade in diesem gesellschaftlichen Sektor eine große Gefahr für das Regime: wenn jene, die ihre ganze Existenz in den Dienst der immerwährenden "Revolution" gestellt haben, endgültig realisieren, dass die Elite sich inzwischen die Taschen vollgestopft und ihre Kinder und Enkelkinder zum Studieren ins Ausland geschickt hat.

Anklagender Brief der Schwester

Ali Khamenei steht dem Apparat und dem Staat nunmehr seit unglaublichen 33 Jahren vor, 23 Jahre länger als Ruhollah Khomeinis Zeit als geistlicher Führer währte (1979–1989). Dass der Mann, dessen Büro alle Institutionen beherrscht, nicht einmal seine ganze eigene Familie vom System überzeugen konnte, war seit langem bekannt. Aber der aktuelle anklagende Brief seiner Schwester – deren Tochter verhaftet wurde – erinnert daran.

Auch innerhalb des Establishments werden sich manche fragen, ob der alte, kranke Mann die Dinge noch im Griff hat, wenngleich noch hinter vorgehaltener Hand. Die Bemerkungen, die der iranische Generalstaatsanwalt rund um die Aussetzung – von einer "Auflösung" ist keine Rede – der Sittenpolizei gemacht hat, sind ein Hinweis darauf, dass es Uneinigkeit über das Vorgehen gibt.

Der Mullah stellte klar, dass Nachlässigkeit bei der angeblich islamischen weiblichen Kleidung eine Gefahr für das System ist und bleibt. Um das zu ändern und jene, die es kontrollieren, abzuschaffen, müsste ein ganzes Prinzip der Islamischen Republik geopfert werden. Die Herrschaften lesen dieses aus dem Koran ab – der aber schwerlich als Anleitung für eine moderne Staatsführung dienen kann: dass man das "Gute" betreiben und das "Böse" verhindern soll.

"Kultureller" Riesenapparat

Diesem Motto widmet sich im Iran ein "kultureller" Riesenapparat. Die Sittenpolizei ist nur eines der Instrumente in seinem Dienst. Man liegt aber auch nicht falsch, wenn man bei der Analyse über den islamischen Aspekt hinausdenkt und Parallelen zu anderen mörderischen "Kulturrevolutionen" zieht. Nur sind solche Bewegungen, wenn sie nicht religiös legitimiert sind, mit Gewissheit leichter zu revidieren. Aber auch dann: Demokratien kommen dabei trotzdem nicht immer heraus. (Gudrun Harrer, 9.12.2022)