Seit 870 Tagen in U-Haft in Bayern, nun den ersten Tag vor Gericht: Ex-Wirecard-Chef Markus Braun.

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Über das Schicksal von Ex-Wirecard-Chef Markus Braun wird nahe einer weihnachtlichen Idylle verhandelt. Das Landgericht und die Justizvollzugsanstalt Stadelheim in München befinden sich in einer ruhigen Wohngegend, an den Fenstern und in den Vorgärten leuchtet die Weihnachtsdeko.

VIDEO: Zum Auftakt seines Prozesses vor dem Landgericht München sitzt der frühere Wirecard-Chef Markus Braun bereits mehrere Jahre in Untersuchungshaft. Das wird wohl auch so bleiben, denn der Prozess könnte sich lange hinziehen. (AFP)
DER STANDARD

Doch drinnen, im Gericht, ist davon nichts zu spüren. Um neun Uhr an diesem Donnerstag, der in Deutschland kein Feiertag ist, wären viele schon bereit. Die Staatsanwaltschaft, die Braun vorwirft, quasi als Kopf einer Bande Wirecard manipuliert und ausgeraubt zu haben, ist da, auch Brauns Anwälte treffen rechtzeitig ein.

Drei Angeklagte

Doch es fehlen: Richter Markus Födisch, Vorsitzender der vierten Großen Strafkammer am Landgericht München I, die sich ausschließlich mit großen Wirtschaftsstrafverfahren befasst. Und natürlich die Angeklagten: nebst Braun noch sein ehemaliger Statthalter in Dubai, Oliver Bellenhaus, sowie der ehemalige Buchhalter, Stephan von Erffa.

Erst mit einer Verspätung von rund 45 Minuten beginnt dann der Prozess. Die Einlasskontrollen für die Besucherinnen und Besucher haben länger gedauert als geplant. Dabei sind noch Plätze im Zuseherraum frei. So riesig ist der Andrang nicht, nur die Dimension des Strafverfahrens.

Milliarden Euro Schaden

Als der Zahlungsdiensleister Wirecard AG mit Hauptsitz in Aschheim bei München, der an der Schnittstelle zwischen Kreditkartenfirmen auf der einen sowie Einzelhändlern und sonstigen Verkäufern auf der anderen Seite elektronische Zahlungen abwickelte, 2020 zusammenbrach, verloren zehntausende Aktionäre mehr als 20 Milliarden Euro, Banken und andere Gläubiger blieben auf mehr als drei Milliarden Euro sitzen.

Verantwortlich dafür soll vor allem der Österreicher Braun sein. Er kommt fast unauffällig in den Saal, hat einen Laptop dabei und setzt sich zwischen seine Verteidiger. Wie früher oft, trägt er einen dunklen Rollkragenpullover und ein dunkles Jackett.

Braun sieht sich als Opfer

Der Richter fragt ihn, ob er Markus Braun heißt. "Das ist richtig", lautet die Antwort. Braun bejaht auch, dass er von Beruf Wirtschaftsinformatiker ist und die österreichische Staatsbürgerschaft besitzt. Ob es korrekt ist, dass er in der Justizvollzugsanstalt einsitzt, will der Richter wissen. Braun: "Absolut richtig."

Braun spricht laut und deutlich, er sitzt aufrecht und wirkt sehr konzentriert. Von einem möglichen Häufchen Elend, das seit zweieinhalb Jahren in U-Haft sitzt, wie manche vor dem Prozess gemutmaßt haben, ist nichts zu sehen. Man kann durchaus interpretieren, dass da einer gekommen ist, um zu zeigen: Das Spiel ist noch nicht vorbei.Das sagen ja auch Brauns Anwälte, allen voran Alfred Dierlamm. Die Vorwürfe gegen seinen Mandanten seien unrichtig, hat er im Vorfeld erklärt, Braun sei nicht Täter, sondern Opfer einer Bande rund um Ex-Vorstand Jan Marsalek. Der, auch ein Österreicher, hätte sicher einiges zu sagen. Aber er hat sich ja abgesetzt und war für die Justiz nicht greifbar. Aufhalten soll er sich in Russland.

Marktmanipulation, Untreue

Zunächst muss Braun schweigen, die Anklage wird verlesen. Auftritt Staatsanwalt Matthias Bühring. 90 Seiten hat er vor sich, es dauert stundenlang. Bühring liest schnell, es rasen die Zahlenkolonnen und Millionen nur so durch den Raum. Die Staatsanwaltschaft wirft den Angeklagten vor, Umsätze und Gewinne in den Wirecard-Bilanzen falsch angegeben zu haben, um den Konzern besser dastehen zu lassen. Mithilfe erfundener Umsätze und Gewinne vor allem in Asien seien deshalb Aktionäre und Kreditgeber geblendet worden.

Doch der Staatsanwalt spart auch nicht mit gut vernehmbaren Worten. Er stellt den Sachverhalt zudem so dar: "Zu einem nicht genau bestimmbaren Zeitpunkt vor dem Jahr 2015" hätten sich die Beklagten "zu einer Bande" zusammengeschlossen. Deren Ziel war es, "die Bilanzsumme und das Umsatzvolumen der Wirecard AG auf Konzernebene durch Vortäuschen von Einnahmen und Gewinnen aus Geschäften mit sogenannten Third Party Acquirern (Drittpartnern) aufzublähen, um das Unternehmen finanzkräftiger und für Investoren und Kunden attraktiver darzustellen".

"Bandenmitglieder"

Er wirft Braun, Bellenhaus und von Erffa auch einmal vor: "Mit dieser Vereinbarung legten die Bandenmitglieder das Fundament für die in den Folgejahren, jedenfalls zwischen Ende 2015 bis Mitte 2020, ersonnenen, geplanten und ausgeführten Straftaten der unrichtigen Darstellung, der Marktmanipulation, des gewerbsmäßigen Bandenbetruges und der Untreue."

Immer wieder wird betont, dass den Angeklagten bewusst gewesen sei, wie sie getäuscht und getrickst hätten, vieles sei "zwischen ihnen abgesprochen" worden. Sie hätten auch gewusst und erkannt, dass veröffentlichte Zahlen und Prognosen "unrichtig" waren. Richtige Angaben hätten nämlich gezeigt, dass Wirecard nicht so toll dastehe. Und über Braun heißt es, er habe die Stabilisierung des Aktienkurses auch deshalb gewollt, um den Wert seines eigenen Aktienpakets zu erhalten.

Markus Braun nimmt all dies meist äußerlich ungerührt hin. Manchmal tauscht er sich mit seinen Verteidigern aus, ansonsten sitzt er aufrecht und hört zu.

Und das wird er noch lange machen müssen. Es sind zunächst 100 Verhandlungstage angesetzt, das Urteil wird nicht vor 2024 erwartet. Für die Angeklagten gilt die Unschuldsvermutung. (Birgit Baumann aus München, 9.12.2022)