"Seit mehr als einem Jahrzehnt wird darüber diskutiert, dass Schengen erweitert werden soll. Und jetzt kommt das plötzlich, ohne die Bevölkerung darauf vorzubereiten", sagt Karner.

Im Innenministerium in der Wiener Herrengasse brennen zwei Kerzen auf dem Adventkranz, im Innenhof stehen schon die Punschstände für die Ressort-Weihnachtsfeier. Beim Innenministertreffen in Brüssel am Donnerstag ging es weniger besinnlich zu – die Gespräche zu Schengen sollen äußerst angespannt verlaufen sein.

VIDEO: Innenminister Karner zum Schengenraum: "Das System funktioniert nicht"
DER STANDARD

STANDARD: Herr Karner, im Zuge der deutschen Razzia in der Reichsbürgerszene führen Verbindungen nach Österreich, es gab auch hier eine Festnahme. Haben Sie Erkenntnisse, dass auch hierzulande ein rechtsextremer Putsch geplant worden sein könnte?

Karner: Das Hauptbetätigungsfeld der Reichsbürger ist Deutschland. Aber der Zugriff ist in enger Verzahnung mit italienischen und österreichischen Behörden erfolgt. Er wurde lange intensiv vorbereitet. Der Einsatz zeigt, dass die internationale Kooperation gerade bei solchen demokratiefeindlichen Gruppierungen enorm wichtig ist und dass der österreichische Staatsschutz in Europa wieder eine Rolle spielt.

STANDARD: Gibt es konkrete Verdachtsmomente in Österreich?

Karner: Bei so großen Fällen wie diesem gilt: Aus den Festnahmen ergeben sich weitere Einvernahmen, die sicherlich noch weitere Ermittlungen nach sich ziehen werden. Denn die Reichsbürgerszene in Deutschland und Österreich ist auch durch den gemeinsamen Sprach- und Kulturraum eine übergreifende mit guter Vernetzung.

STANDARD: Teile der Sicherheitskräfte sind tendenziell anfällig für solche Ideologien. In der deutschen Bundeswehr sind schon früher bewaffnete rechtsextreme Netzwerke aufgedeckt worden, auch im österreichischen Bundesheer gab es Extremismusfälle. Was können Sie zur Polizei sagen?

Karner: Wir haben derzeit keine Hinweise darauf, dass Mitarbeiter des Innenministeriums betroffen wären.

STANDARD: Beim Innenministertreffen am Donnerstag haben Sie gemeinsam mit den Niederlanden ein Veto gegen den Schengen-Beitritt Rumäniens eingelegt. Was hat das Land denn falsch gemacht?

Karner: Ich habe gegen eine Aufnahme Bulgariens und Rumäniens zum jetzigen Zeitpunkt gestimmt. Weil Schengen derzeit nicht funktioniert, sonst hätten wir nicht in Österreich 75.000 unregistrierte Aufgriffe. Und ich habe vorgeschlagen, den Beitritt zu verschieben und beispielsweise im September neuerlich abzustimmen. Nach dieser Phase kann man sagen: Ist etwas passiert, sind den Maßnahmen, die die EU-Kommission in einem ersten Schritt angekündigt hat, auch Taten gefolgt? Papier ist geduldig, Maßnahmen sind wichtig.

STANDARD: Aber nur eine Minderheit der Menschen, die in Österreich um Asyl ansuchen, kommt über Rumänien – die meisten über Serbien und Ungarn. Rumänien ist verärgert über die Vorgehensweise Österreichs.

Karner: Ich bin auch verärgert. Nämlich über die Vorgangsweise, dass praktisch über Nacht die Rechtsakte auf den Tisch gelegt wurden. Seit mehr als einem Jahrzehnt wird darüber diskutiert, dass Schengen erweitert werden soll. Und jetzt kommt das plötzlich, ohne die Bevölkerung darauf vorzubereiten, was das bringt: Ist das ein Mehr an Sicherheit? Oder gibt es beim Risiko ein Plus und ein Minus?

STANDARD: Sie sind aber allein auf weiter Flur. All die Länder, die es auch betrifft, wie Slowenien, Tschechien, die Slowakei, gehen nicht mit Ihnen mit.

Karner: Tschechien hat aktuell den EU-Vorsitz. Wenn man Vorsitzland ist, will man natürlich auch Ergebnisse erzielen, das verstehe ich. Ich halte es für wesentlich, dass jetzt wirksame Maßnahmen zur Eindämmung von illegaler Migration und Asylmissbrauch in die Umsetzung kommen, beispielsweise, dass in Bulgarien Außengrenzverfahren durchgeführt werden.

STANDARD: Würde Ihre Einschätzung zu Rumänien und Bulgarien anders aussehen, wenn es am 29. Jänner nicht eine für die ÖVP sehr wichtige Wahl in Niederösterreich gäbe?

Karner: Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Wir haben die größten Zahlen an Flüchtlingen seit 1956. Eigentlich an illegaler Migration, denn wir wissen, dass der Großteil Wirtschaftsflüchtlinge sind. Das kann ich ja nicht ignorieren. Und egal, ob da irgendwo eine Wahl ist oder nicht: Diese Dinge sind Fakten und mit denen habe ich mich als Minister auseinanderzusetzen.

"Es war ein Freitagabend, als ich den STANDARD-Artikel mit diesem Titel sah. Ich hatte gerade Freunde zu Gast und stand am Griller – das Steak wäre mir fast verbrannt", sagt Karner zu seinem im STANDARD geäußerten Satz "Die Empirie, die Wissenschaft ist das eine, die Fakten sind das andere", der ihm viel Kritik einbrachte.
Foto: Robert Newald

STANDARD: In Österreich gab es im Vorjahr fast 40.000 Asylanträge, in Ungarn 40. Was stimmt da nicht?

Karner: Wenn ein Inder, der auf der Suche nach einem wirtschaftlich besseren Leben ist, in Österreich, Italien, Spanien, oder Portugal arbeiten will, dann wird ihn kein Mensch dazu bringen, in Ungarn das Wort "Asyl" über die Lippen zu bringen. Denn er will nicht in Ungarn arbeiten, sondern in Westeuropa.

STANDARD: Sie fordern die scharfe Trennung von Asyl und Migration. Warum gibt man dann nicht etwa Tunesiern, die in ihrer als Urlaubsland beliebten Heimat Erfahrung im Tourismus haben, Arbeitsvisa für die österreichische Gastronomie, die händeringend nach Arbeitskräften sucht?

Karner: Das tun wir, und das müssen wir noch stärker tun. Ganz konkret über die Rot-Weiß-Rot-Karte. Ich habe das Thema gerade wieder mit Arbeitsminister Martin Kocher diskutiert, der ja für die legale Zuwanderung und die Arbeitsmigration zuständig ist. Ich bin zuständig für den Kampf gegen illegale Migration. Und ich bin strikt dagegen, das zu vermischen.

STANDARD: Sie fordern von der EU-Kommission einen "robusteren Außengrenzenschutz". Aber warum sind Sie eigentlich gegen einen EU-weiten Verteilungsschlüssel von Asylwerbenden nach Einwohnerzahl? Der würde Österreich mit der dritthöchsten Pro-Kopf-Quote Europas bei Asylanträgen ja entlasten.

Karner: Weil es eine sehr theoretische Diskussion ist. Denn natürlich kann man am grünen Tisch skizzieren, wie viele Asylwerber wo sein sollen. Aber Faktum ist: Wir leben Gott sei Dank in einem ordentlichen, funktionierenden Rechtsstaat. In einem Land, wo trotz aktuellen Schwierigkeiten wie der Teuerung Menschen froh sind, dass sie hier leben können. Und das führt auch dazu, dass viele Menschen, die kommen, lieber in Österreich leben wollen als in einem anderen Land östlich von uns. Über theoretische Gebilde kann man lange diskutieren. Wenn sie nicht funktionieren, macht es keinen Sinn.

STANDARD: Die Zelte für Asylwerber werden inzwischen wieder abgebaut. Hätten Sie als Innenminister die Länder nicht anders dazu bringen können, ihre Flüchtlingsquoten zu erfüllen als mit Bildern von Zeltstädten?

Karner: Über Konflikte zu berichten ist viel schöner als darüber, wenn etwas gut funktioniert. Und Faktum ist: In diesem Jahr hat auch vieles, gerade bei der Hilfe für Ukrainerinnen und Ukrainer sehr gut funktioniert. Wir haben da mit den NGOs, den Ländern, den Gemeinden und durch die Koordination des Innenministeriums Unglaubliches geleistet. Aber ja, das System kam dann irgendwann an seine Grenzen. Als ich im Frühjahr davor gewarnt habe, haben viele noch gesagt, ich würde damit nur von irgendwelchen Skandalen ablenken wollen.

STANDARD: Nur ein kleiner Teil der Menschen, die in Österreich einen Asylantrag gestellt haben, hat aber tatsächlich auch hier ein Asylverfahren bekommen. Der Großteil ist in andere EU-Länder weitergezogen – hat das heimische Asylsystem also nicht belastet.

Karner: Aber trotzdem wurden 100.000 Menschen an der Grenze durch die Polizei registriert. Und die Zahlen sind inzwischen auf hohem Niveau deutlich zurückgegangen. Was die Polizei in Nickelsdorf geleistet hat, ist enorm. Aber wenn wir zurückschauen, dann kamen die Asylquartiere an ihre Grenzen. Der Chef der Bundesbetreuungsagentur hatte dann die Wahl: Gibt es Obdachlosigkeit, sprich schlafen junge Männer aus Indien und Tunesien unter Bäumen, auf Dorfplätzen, auf Bahnhöfen – oder schlafen sie bei Polizeischulen in Zelten?

STANDARD: Ein Teil der Zeltproblematik ist, dass die Länder Asylquartiere immer wieder geschlossen haben, wenn gerade weniger Menschen gekommen sind – und diese Plätze fehlten, wenn sie wieder gebraucht wurden. Warum können Sie als zuständiger Innenminister nicht sicherstellen, dass die Plätze da sind, wenn Sie gebraucht werden?

Karner: Die Länder haben die Quartiere nicht nur geschlossen, wenn man sie nicht mehr gebraucht hat. Sondern auch, weil der Rechnungshof in der Nachbetrachtung vieles kritisiert hat, etwa wie man bei Asylquartieren diese längerfristigen Verträge abschließen kann. Ja, die Geschichte von hinten gelesen, ist manchmal viel, viel einfacher.

STANDARD: Aber der Punkt ist doch, dass die meisten Länder ihre Quoten für Asylquartiere nicht erfüllen – und das seit Jahren. Aktuell wird wieder der Finanzausgleich verhandelt, die Länder wollen mehr Geld vom Bund. Ganz pragmatisch gefragt: Kann man da nicht ein bisschen junktimieren?

Karner: Es ist uns gelungen, eine 15-A-Vereinbarung zur Aufteilung zu schaffen, damit die Last gleichmäßig verteilt wird. Ich weiß, dass sich viele bemühen. Mittlerweile sind die Bemühungen intensiver geworden. Daher war es auch möglich, die Zelte abzubauen und daher wird versucht, in einem ordentlichen Miteinander diese Situation zu lösen.

Rund um die Menschenrechtskonvention gehe es darum, zu ihrem ursprünglichen Gedanken zurückzukehren, findet der Innenminister.

STANDARD: Sie haben nach dem Vorstoß von ÖVP-Klubchef August Wöginger zur Änderung der Europäischen Menschenrechtskonvention gesagt, man müsse "in der Interpretation wahrscheinlich nachjustieren". Was wollen Sie konkret ändern?

Karner: Also erst einmal habe ich Verständnis dafür, dass über diese Dinge debattiert wird. Denn das System an sich funktioniert nicht. Und wenn es eine Rechtsprechung gibt, wo von der Schweiz nach Italien nicht abgeschoben werden darf, dann hat es da was.

STANDARD: Was soll man ändern?

Karner: Ich glaube, es ist wichtig, dass alle Regelungen, die damit verbunden sind, etwa das europäische Asylsystem und Asylrecht, zu dem zurückkehren, was der ursprüngliche Gedanke war. Nämlich jenen Menschen zu helfen, die etwa politisch oder religiös verfolgt werden. Dieses System wird immer mehr unterlaufen und daher über Gebühr belastet. Das macht es schwierig, jenen zu helfen, die Hilfe wirklich brauchen.

STANDARD: Ist die Menschenrechtskonvention dafür die richtige Baustelle? Darin ist etwa das Recht auf Leben, Verbot von Folter oder Sklaverei festgehalten.

Karner: Wir brauchen nicht über die Menschenrechte diskutieren, daran gibt es nichts zu rütteln. Aber wenn es Interpretationen durch die europäischen Gerichtshöfe gibt, die nicht im Sinne der Konvention sind, ist es doch legitim, über die Interpretation zu sprechen.

STANDARD: In einem STANDARD-Interview im Sommer haben Sie im Zusammenhang mit der nicht belegten Wirksamkeit einer Innenministeriums-Kampagne, die Migration verhindern soll, gesagt: "Die Empirie, die Wissenschaft, ist das eine, die Fakten sind das andere". Das hat für gehörige Wellen gesorgt. Misstrauen Sie der Wissenschaft?

Karner: Nein, gar nicht. Es war ein Freitagabend, als ich den Artikel mit diesem Titel sah. Ich hatte gerade Freunde zu Gast und stand am Griller – das Steak wäre mir fast verbrannt, als ich den STANDARD las. Der Titel verkürzt die gesamte Aussage etwas, aber es ist natürlich legitim, eine Überschrift kurz und knackig zu halten. Der Hintergrund meiner Aussage war: Als wir die Kampagne lancierten, sagte eine Wiener Uni-Assistentin: Sie habe zwar keine empirische Untersuchung dazu, aber die Kampagne bringe nichts. Es hat mich doch sehr verwundert, dass eine Wissenschaftlerin das sagt. Deshalb habe ich darauf hingewiesen, dass die Asylzahlen in den Folgejahren zurückgingen.

STANDARD: Würden Sie den Satz heute anders formulieren?

Karner: Wenn ich gewusst hätte, wie DER STANDARD titelt, ja. (Petra Stuiber, Martin Tschiderer, 8.12.2022)