Auch am Donnerstag kam es in Lima zu Protesten.

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Peru ist ein Land in politischer Dauerkrise: In den vergangenen sechs Jahren gab es an der Staatsspitze ständige Rochaden. Dennoch waren die Ereignisse vom Mittwoch selbst für Peru außergewöhnlich. Von seinen politischen Gegnern in die Enge getrieben und von der Justiz mit sieben Korruptionsermittlungen überhäuft, trat der linke Präsident Pedro Castillo mit einem klassischen Selbstputsch die Flucht nach vorn an, um seiner drohenden Amtsenthebung zuvorzukommen.

Ausnahmezustand, Auflösung des Kongresses und Gleichschaltung der Justiz – so etwas hatte in Peru zuletzt Alberto Fujimori im Jahr 1992 gewagt. Er hatte damals, auf dem Höhepunkt des blutigen Bürgerkriegs, Erfolg. Für Castillo hingegen endete der Versuch im Gefängnis. Denn im Gegensatz zu Fujimori hatte Castillo weder die Streitkräfte noch die wirtschaftliche Elite des Landes hinter sich. Sein Kabinett trat nach Castillos Ansprache fast komplett zurück, der Kongress setzte ihn umgehend wegen "moralischer Unfähigkeit" ab, die Justiz konstatierte einen Verfassungsbruch und erließ Haftbefehl wegen Rebellion.

Selbst linke Medien verurteilten den Selbstputsch umgehend. Noch bevor sich Castillo in die mexikanische Botschaft flüchten konnte, deren Regierung ihm politisches Exil zugesagt hatte, wurde er festgenommen. Gelöst ist die Krise in Peru mit seiner Absetzung aber noch lange nicht.

Tiefer Riss im Land

Denn durch Peru zieht sich ein tiefer Riss. Er trennt diejenigen, die von der neoliberalen Wirtschaftspolitik der vergangenen Jahrzehnte profitierten – die Elite und eine neue, eher urbane Mittelschicht –, von der ländlichen und indigenen Bevölkerung, die sich vernachlässigt, diskriminiert und übergangen fühlt. Gleichzeitig leidet Peru noch immer unter den Folgen der Fujimori-Diktatur, die sämtliche Oppositionsparteien zerschlug und Kritiker entweder ermordete oder mit Geldbündeln kooptierte. Seither gibt es in Peru keine konsolidierten, programmatisch aufgestellten Parteien mehr, sondern nur noch lose Ad-hoc-Wahlvereine.

Gelder der organisierten Kriminalität – vor allem aus dem Drogenhandel – haben die Politik darüber hinaus korrumpiert. Castillos Vorgänger sitzen nahezu alle wegen Korruption im Gefängnis – oder sind einer Verhaftung durch Selbstmord zuvorgekommen. Castillo hielt sich zuletzt nur noch deshalb an der Macht, weil er im Kongress genügend Parlamentarier gekauft hatte, um seine Absetzung zu blockieren.

Diktatorentochter als Wahlhilfe Castillos

2021 zog Castillo in einem unübersichtlichen Feld von Bewerbern überraschend in die Stichwahl ein. Das verdankte er vor allem seiner Gegnerin: der Tochter Fujimoris, Keiko. Die Diktatorentochter war für die Mehrheit der Peruaner als Präsidentin inakzeptabel. Deshalb entschieden sie sich für das vermeintlich kleinere Übel: den politisch unbeleckten, von einer marxistischen Partei aufs Schild gehobenen Landschullehrer, der versprach, die Korruption zu bekämpfen.

Doch Castillo erwies sich von Anfang an als der Aufgabe nicht gewachsen. Und gleichzeitig legte ihm die Elite haufenweise Steine und Tretminen in den Weg, um ihn möglichst schnell loszuwerden. Denn Castillo, so fürchteten sie, war unberechenbar und könnte den neoliberalen Konsens gefährden, der dem Land trotz politischer Turbulenzen ordentliche Wachstumsraten beschert hatte.

80 Minister in wenigen Monaten

Castillo tappte zielsicher in jedes Fettnäpfchen. Sein Kabinett, besetzt mit moralisch zweifelhaften Gestalten, konnte sich nie konsolidieren. 80 Minister hat er verschlissen – manche waren nur wenige Tage im Amt, verfolgt von Korruptionsaffären, Morden, Sexismus oder Alkohol am Steuer. Im Bad des Büros von Castillos Privatsekretär wurden 20.000 US-Dollar in bar gefunden; Posten in Staatsbetrieben und Ministerien wurden verkauft.

Gleichzeitig identifizierte sich die Landbevölkerung mit Castillo. Es häuften sich die Proteste vor allem gegen die Bergbaufirmen, die Peru zwar in den vergangenen Jahrzehnten Investitionen und Wirtschaftswachstum bescherten, aber vor allem den Reichtum ihrer ausländischen Aktionäre mehrten, während der Landbevölkerung durch die Umweltverschmutzung die Lebensgrundlage entzogen wurde. Zahlreiche Minen wurden in den vergangenen 17 Monaten durch Straßensperren blockiert. Castillos Regierung ließ sie gewähren, versuchte hier und da, kurzfristig zu vermitteln, ohne jedoch die Spielregeln im Bergbau grundlegend neu zu definieren. Dennoch hatte er bei der ländlichen Bevölkerung bis zuletzt 49 Prozent Popularität. In der Hauptstadt Lima waren es nur noch 19 Prozent.

Unbekannte Anwältin als Nachfolgerin

Castillos Nachfolgerin ist verfassungsgemäß seine Vizepräsidentin Dina Boluarte, eine weitgehend unbekannte Anwältin aus der Provinz Apurímac, einer sehr ärmlichen Gegend. Sie ist die erste Frau im obersten Staatsamt und rief am Mittwoch zu einer Regierung der nationalen Einheit auf. Ihre Amtszeit läuft bis 2025, allerdings braucht sie parteiübergreifende Bündnisse, um regieren zu können. Den Übergangsregierungen ist es in den letzten Jahren meist besser gelungen, das Land zu stabilisieren, als den gewählten.

Peru bräuchte aber mehr als eine Atempause: einen moralischen Aufstand gegen die Korruption, die mittlerweile den ganzen Staat unterwandert hat. Ohne massiven Druck der Bevölkerung werden einschneidende Reformen kaum stattfinden. Castillo ist letztlich ein trauriges Beispiel dafür, wie schnell gute Vorsätze an diesem System zerschellen. (Sandra Weiss, 9.12.2022)