Mildred Harnack bezahlte für ihren Widerstand mit dem Tod durch das Fallbeil. Als US-Bürgerin hätte sie ausreisen und sich retten können.

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Als die deutsche Ausgabe des in den USA preisgekrönten Buchs Die Geschichte der Mildred Harnack und ihres leidenschaftlichen Widerstands gegen Hitler von Rebecca Donner über ihre Urgroßtante Mildred Harnack und deren Rolle im Widerstand gegen das Naziregime erschien, wurde ihr in einem Spiegel-Artikel ein Zuviel an Spekulation vorgeworfen. Dabei bildet Harnack eher Anlass und Angelpunkt einer breit angelegten historischen Erzählung über den Aufstieg des Nationalsozialismus, den Kreis von Widerständigen bis zur Festnahme und Hinrichtung nahezu aller Beteiligten. Die 1902 in Milwaukee geborene Mildred war 1930 mit ihrem deutschen Mann Arvid nach Berlin gekommen. Ihr Bekanntenkreis umfasste sowohl Auslandsamerikaner als auch Oppositionelle und Nazisympathisanten. Donner schildert die vielfältigen Aktionen der im Widerstand Engagierten, zeichnet politische Geschehnisse nach und erzeugt ein vielschichtiges Bild jener Zeit.

So rekrutierte Mildred im Zuge ihrer Tätigkeit als Lehrende englischer Literatur künftige Mitarbeiter; ihr Mann nahm eine Stelle im NS-Wirtschaftsministerium an, um Informationen zu erhalten, die er der politischen Gegenseite zukommen ließ. Die Sowjets wollten ihn als Spion anheuern, was Arvid zunächst ablehnte. Später, als die Situation auswegloser wurde, ließ er sich darauf ein, trat zur besseren Tarnung sogar in die NSDAP ein. Mildred spielte brave Nazi-Ehefrau und Lehrerin, stets auf der Hut: "Bevor sie mit jemandem spricht, blickt sie über ihre Schulter und dann von der einen zur andern Seite. In Berlin nennt man es den deutschen Blick."

Rebecca Dorner auf den Spuren ihrer Urgroßtante.
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Ungesehen bleiben

Donner berichtet detailreich und bemüht, die Atmosphäre Nazi-Berlins spürbar werden zu lassen, fügt Informationen zum Alltag ein, zum Beispiel dass Angestellte der US-Botschaft während des Kriegs noch Butter aus Dänemark bekamen, als die Deutschen längst darauf verzichten mussten. Frauen verloren ihre Jobs, sollten vor allem Kinder gebären. In den Schulen wurde nun Haushaltskunde unterrichtet, für Modemagazine posierten nur mehr deutsche Models.

Politische Geschehnisse, ansonsten oft bloß unter einem Stichwort zusammengefasst, erklärt Donner akribisch, zum Beispiel wie Bücherverbrennungen gehandhabt wurden: Erst wurde ein Bett aus Sand ausgelegt, dann Scheiter so geschichtet, dass Luftdurchzug das Feuer in Gang hielt, worauf dann die verfemten Schriften landeten.

Dass die Rekonstruktion der Widerstandsarbeit der Gruppe und, im Speziellen, der Tätigkeit Mildreds mit Problemen verbunden war, erklärt die Autorin gleich zu Beginn. Je besser es ihrer Urgroßtante gelang, ungesehen, ungehört und unsichtbar zu werden, desto besser konnte sie gegen die Nazis arbeiten.

Das macht es schwierig, im Nachhinein Genaueres darüber zu erfahren. In den wenigen erhaltenen schriftlichen Zeugnissen, vor allem Briefen an die Mutter, wimmelt es von Andeutungen, versteckten Hinweisen, verschlüsselter Sprache: "Eine ihrer Taktiken besteht darin, das Gegenteil dessen zu sagen, was sie tatsächlich meint." In Telefonaten wurden wesentliche Aussagen unter Geschwätz versteckt. Sagte Mildred zum Beispiel, sie gehe zum Gebet, bedeutete das, dass sie verbotenerweise Nachrichten von ausländischen Radiosendern hören werde.

Neben Quellen aus Archiven und Familienbesitz konnte Donner für ihre Recherche einen Zeitzeugen befragen: Don Heath, Sohn eines Beamten der US-Botschaft in Berlin, den Mildred in englischer Literatur unterrichtete und der ihr für geheime Kurierdienste zur Verfügung stand. Don berichtete aber von den Geschehnissen erst Jahrzehnte später, und nicht immer ist auf solche Erinnerungen Wort für Wort Verlass. Der Einwand des Spiegel-Artikels, dass Mildred nicht so wichtig und ihr Kreis eher Lesezirkel als organisierte Gruppe gewesen sei, ist ebenfalls mit Vorsicht zu behandeln. Immerhin bezahlte Mildred Harnack dafür mit dem Tod durch das Fallbeil. Als US-Bürgerin hätte sie ausreisen und sich retten können. Oft genug wurden die Leistungen von Frauen eher geschmälert, die Rolle von Männern aber zu Heldenerzählungen ausgebaut.

Weiblicher Widerstand

So lange die Definition von Widerstand nur Menschen einschließt, die mit Waffen am Sturz des Regimes arbeiteten, bleiben Aktivitäten weiblichen Widerstands unberücksichtigt. Donner beschreibt Aktionen, die auch von Frauen verrichtet wurden, wie Essen für versteckte Juden besorgen; Flugblätter tippen; genügend Papier, Kohlepapier, Farbbänder auftreiben; Texte vervielfältigen; immer nur 20 Briefmarken auf einmal auf einem Postamt kaufen, damit nicht auffällt, dass großflächige Sendungen vorbereitet werden; sich in Institutionen einschleusen, wie etwa die Mitstreiterin Libertas Boysen-Schulze, die für eine Zensurbehörde arbeitete und Einblick in Fotografien von grausamen Kriegsgeschehnissen erhielt. Es mussten Sendegeräte besorgt, versteckt, repariert und transportiert, zum Beispiel in Kinderwägen, unter Decken und Spielsachen versteckt, von Frauen durch Berlins Straßen geschoben werden. Die Historikerin Martina Gugglberger plädiert daher für eine differenzierte Definition von Widerstand, da Handlungsräume von Frauen geschlechtsspezifisch geprägt waren. Hilfe und Sorgearbeit standen im Vordergrund. Zudem war bei Frauen das Selbstverständnis als Widerstandskämpferin weniger stark ausgeprägt. Oft schwiegen sie über ihre Erfahrungen, weil sie über die ihnen zugedachte weibliche Rolle hinaus agierten, was nach dem Krieg negativ ausgelegt werden konnte.

Zudem ist weiblicher Widerstand schwer nachweisbar, weil schriftliche Festlegung Frauen weniger zugestanden wurde als Männern. Und: "War eine Frau nicht angezeigt worden, existieren auch keine Akten, die Zeugnis von ihrem Handeln geben könnten. Sie blieben damit auch für die historische Forschung verborgen", so Gugglberger.

Die ausbleibende Würdigung von Donners Urgroßtante bildet denn auch einen Antrieb für die Autorin. Familiäre Betroffenheit läuft jedoch Gefahr, als unwissenschaftliche Befangenheit interpretiert zu werden. Andererseits agiert Donner als allwissende Erzählerin, verzichtet auf die Einführung eines "Ich", das Subjektivität transportieren könnte. Stattdessen rekonstruiert sie Mildreds Leben aufgrund von Spuren, die sie in Geheimdienstakten britischer, amerikanischer, deutscher Herkunft findet. Dass viele Quellen damaliger Behörden wie Gestapo, NS-Gerichte, Polizei vor allem deren Sichtweise widerspiegeln, ist der Autorin jedoch bekannt. Sie erwähnt, dass einiges von amerikanischer Seite bewusst zurückgehalten, anderes erst nach dem Fall der Mauer zugänglich wurde. Viele Informationen in US-Geheimdienstunterlagen stammten anscheinend von Gestapobeamten. Dazu kommt die Überhöhung des Widerstands in der DDR-Geschichtsschreibung, Einflüsse also, die verzerren, was einst geschehen sein könnte.

Rebecca Donner, "Die Geschichte der Mildred Harnack und ihres leidenschaftlichen Widerstands gegen Hitler".
€ 37,10 / 624 Seiten. Kanon, Berlin 2022
kanon

Gelöschte Fakten

Quellen sind immer belastet von Kontexten und Institutionen, in denen sie entstanden, und von den politischen Situationen, in denen mit ihnen gearbeitet wurde und wird. Archive erzählen viel, aber sie enthalten nicht nur Tatsachen, sondern auch Ideologien; es gibt Lücken, die willkürlich gelöschte Fakten hinterlassen. Archive sind Komplizen der Machthaber, betont die US-Historikerin Saidiya Hartman in Bezug auf ihre Forschungen zur Sklaverei. Daher sei es notwendig, Leerstellen zu befragen, Möglichkeiten zu erwägen, um auf Unterschlagenes hinzuweisen.

Neben dem Vorwurf der Übertreibung sowie des unsachgemäßen Umgangs mit Quellen gibt es Kritik an Donners Darstellungsmethode. Was aus amerikanischer Sicht als willkommener Beitrag zur Geschichtsschreibung, weil voller dramatischer Effekte, gilt, wird im Kontext deutschen Verständnisses als überzogen bezeichnet. Tatsächlich verfährt Donner anders als von historischen Darstellungen gewohnt. Sie fügt Notizen, Dokumente, Personenbeschreibungen, Anekdoten, Listen, Gesetzestexte, Tagebücher, Zeitungsberichte, Dialoge, manche verbürgt, manche erfunden, zu einer Erzählung.

Zitate sind zwar eingerückt und kursiv, jedoch nicht mit Fußnoten versehen. Satzteile aus Fremdtexten, die sie im Anhang nachweist, vereinen sich zu einem Erzählfluss. Dokumentarisches dramatisiert Donner, beispielsweise in einer chronologisch geordneten Collage aus Aussagen und Halbsätzen Hitlers, in denen er behauptet, Frieden zu wollen, mit denen er seine Gegner täuschte. Als vorwiegende Zeitform setzt Donner das Präsens, verstärkt so den Eindruck von Unmittelbarkeit. Das Einverständnis zwischen Autorin und Leserschaft wird durch ein "Wir" erreicht, LeserInnen können so den Wahrnehmungsprozess mit nachvollziehen. Kurze Kapitel mit Spannung erzeugenden Titeln erleichtern die Lektüre. Donner greift zu Konjunktiven und Vermutungen, Schnipsel originaler Abbildungen von Ausweisen, Briefen, Wahlzetteln, Kassibern werden in den Text gestreut. Die Autorin konzentriert sich also vor allem auf die Flüssigkeit des Erzählten und bereitet historische Fakten nach Regeln literarischer Dramaturgie auf. Damit hält sie konventioneller Geschichtsdarstellung einen Spiegel vor und zeigt, wie deren Vorgaben beschaffen sind, Historie, und vor allem das heikle Kapitel des Nationalsozialismus zu veranschaulichen.

Kritik an der Methode

Neben Kritik an Methode und Gewichtung geht es in der Diskussion um dieses Buch auch um Deutungshoheit. Immerhin wurde für den Spiegel-Artikel Johannes Tuchel, Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, befragt, von dem die geschilderten Einwände stammen. Donners Verlag meint, dass es sich bei der Kritik wohl um "unterschiedliche Herangehensweisen an Geschichtserzählung in Deutschland und den USA" handele. Wer bestimmt also, was wichtig ist und was nicht? Wie wird festgelegt, wer wichtig ist? Dürfen Kleidung, Essen, abgebrochene Schwangerschaften mit Chiffriertabellen, Propagandareden und Gesetzestexten zusammengebracht werden? Gibt es eine zentrale Prüfstelle, von der historische Darstellungen jener Zeit auszugehen haben? Ein Problem der Kritik an Donners Buch liegt auch darin, dass sie auf Einzelheiten zielt, wie zum Beispiel ob es sich beim Aufenthalt der Harnacks in Preil, wo sie festgenommen wurden, um "Urlaub" oder eine "Flucht" handelte. Mindert das die Bedeutung ihrer Arbeit im Widerstand?

Donners Bericht endet mit Gertrud, der Frau, die mit Mildred zuletzt die Zelle teilte und der die zum Tode Verurteilte Arvids Abschiedsbrief übergab. Dieser Brief gibt Anlass für eine Recherche zu weiteren Geschichten, die sich rund um Mildred konzentrieren, ohne sie dabei stets in den Mittelpunkt zu rücken. Donners Protagonistin bildet viel eher ein Gerüst, an das sich die Erzählung über Schicksale jener Zeit hält. So beschreibt die Autorin Foltern, denen Mildred und Arvid ausgesetzt wurden, samt einer Charakteristik ihres Peinigers Habecker. Die Fakten dazu stammen aus der Berliner Ausstellung Topographie des Terrors. Donner fügt sie so ein, dass es wirkt, als hätte Arvid zu einem Freund darüber gesprochen. Man schlägt nach und erkennt, wie sehr die Autorin die Technik des Collagierens beherrscht.

Die Geschichte endet mit dem Abdruck zweier Seiten aus einem Band mit Goethe-Gedichten aus Mildreds Besitz. Vor ihrer Hinrichtung übersetzte sie das Gedicht Vermächtnis, kritzelte die englische Version neben die originalen Zeilen. Es ist die Ausgestaltung solcher Einzelheiten, die einen immer wieder für Donners Buch einnehmen, Nebensächlichkeiten der großen Geschichte zwar, die es aber vermögen, für kurze Momente die Atmosphäre jener Zeit mitzuerleben.

Wahrscheinlich wird es in Hinkunft öfter Texte mit Historie geben, in denen die Trennlinie zwischen Fiktion und Wissenschaft unschärfer verläuft als gewohnt. Doch was schadet mehr? Gar nicht darüber zu schreiben oder identifikatorische Momente einzubauen, um mehr Aufmerksamkeit zu erreichen? Hier überschneiden sich die Aufgaben der Geschichtsschreibung und der Literatur, denn auch die Geschichtsschreibung folgt narrativen Mustern. Sie muss allerdings stets Faktizität über packenden Stil stellen.

Selbstverständlich aber soll die Herausbildung falscher Mythen vermieden werden, die dazu geführt hat, die Rolle des Widerstands in der allgemeinen Selbstwahrnehmung zu vergrößern, und die Einsicht verkleinerte, Nachkommen von Tätern zu sein. 2018 wurde eine Befragung zu Familiennarrativen über die Zeit des Nationalsozialismus durchgeführt. "Nur 17,6 Prozent der Befragten bejahen, dass unter ihren Vorfahren Täter des Zweiten Weltkriegs waren. Ungefähr ebenso viele Personen (18 Prozent) geben an, ihre Vorfahren hätten in dieser Zeit potenziellen Opfern geholfen."

Täter sind die anderen

Historische Fakten allein ermöglichen also vielen, von der eigenen Familiengeschichte abzusehen: Täter waren immer andere und anderswo. Ein Selbstverständnis als Nachkommen von Opfern garantiert emotionale Entlastung. Die offizielle Erinnerungskultur wird dann als Pflichtübung zwar akzeptiert, bleibt aber ohne Auswirkung. Das ist bedenklich, weil privates Unschuldsbewusstsein von rechten Parteien instrumentalisiert wird.

Die Auseinandersetzung mit belasteter Vergangenheit sei übertrieben und unzeitgemäß, heißt es. Dazu passt die Vereinnahmung des Begriffs "Widerstand" von rechts, wie die Stilisierung der FPÖ als Verfolgte, die Feier der Weißen Rose durch die AfD und die Querdenker-Bewegung, die Sophie Scholl zu ihrer Ikone erhebt. Widerstand gegen eine Diktatur wird hier mit Gegenmeinung in einer Demokratie gleichgesetzt. Wären Historiker bessere Erzähler und literarische Autorinnen verlässliche Faktenchecker, wäre viel gewonnen. Ich persönlich bin über jede Darstellung und Würdigung weiblichen Widerstands froh, um die Erzählung lebendig zu halten und nicht in Idolisierung einzelner, herausgehobener, zumeist männlicher Helden zu erstarren. (Sabine Scholl, 12.12.2022)