Österreich hat am Donnerstag gegen den Beitritt Rumäniens und Bulgariens zum Schengen-Raum gestimmt und so für großen Ärger in den beiden osteuropäischen Ländern und für Irritationen auch in anderen Teilen der EU gesorgt. Nur, worüber genau wird da gestritten? DER STANDARD beantwortet die wichtigsten Fragen.

VIDEO: Österreich als Schengen-Binnenland habe zu viele Asylanträge, sagte der Minister beim Treffen mit Ministerkollegen und -kolleginnen in Brüssel. Die deutsche Bundesinnenministerin kann das österreichische Votum nicht nachvollziehen.
DER STANDARD

Frage: Wie überraschend kam der Konflikt?

Antwort: Sowohl Rumänien als auch Bulgarien waren sich des Widerstands der Niederlande bewusst. Deshalb luden sie eine Experten-Kommission der EU ein, um das Grenzmanagement zu überprüfen. Die Expertengruppe kam im Oktober zum Schluss, dass vor allem Rumänien die Vorgaben bestens umsetze, aber auch Bulgarien bereit sei. Wegen des anhaltenden Widerstands des niederländischen Parlaments besuchte Ende November auch noch eine niederländische Expertengruppe Rumänien. Der niederländische Premier Mark Rutte sprach sich danach für den Beitritt Rumäniens, aber gegen denjenigen Bulgariens aus. Mit einem österreichischen Nein hatte man in Bukarest hingegen nicht wirklich gerechnet.

Frage: Seit wann bemüht sich Rumänien um Aufnahme?

Antwort: Rumänien versucht bereits seit elf Jahren, Teil der Schengen-Zone zu werden. Doch immer wieder gab es Bedenken, vor allem vonseiten der Niederlande, die sich meist auf Korruption bezogen. Rumänien, das 2007 gemeinsam mit Bulgarien der EU beigetreten war, wurde damals einem Monitoring-Mechanismus unterworfen, der Justizreformen und Korruptionsbekämpfung bewertet. Die EU-Kommission kündigte allerdings im November an, diesen für Rumänien einzustellen, weil das Land ausreichend Fortschritte gemacht habe. Auch die Experten, die die Schengen-Reife des Landes beurteilen, stellten Rumänien ein positives Zeugnis aus.

Frage: Wer steckt dann hinter der Gegenstimme aus Österreich?

Antwort: In Österreich kochte zuletzt wieder das Migrationsthema hoch. Innenminister Gerhard Karner (ÖVP) stellte das gesamte Schengen-System infrage. Während man den Beitritt Kroatiens unterstützte, beschlossen Karner und Kanzler Karl Nehammer (ÖVP), sich gegen Bulgarien und Rumänien zu stellen – wohl in der Annahme, dass es ohnehin mehrere EU-Staaten geben werde, die ebenso votieren würden. Karner und Nehammer argumentierten, dass die Migranten über Bulgarien und Rumänien nach Österreich kommen würden.

Frage: Ist Rumänien tatsächlich ein wichtiges Migrationsland für den Schengen-Raum?

Antwort: 2022 ist die ungeplante Migration in die EU gestiegen. Laut Grenzschutzagentur Frontex kam es bis Oktober zu rund 280.000 irregulären Grenzübertritten – ein Plus von 77 Prozent, im Vergleich zu 2021. Allerdings war die Zahl derer, die in Rumänien registriert wurden und trotzdem nach Österreich weiterreisten, gering. Nur drei Prozent aller Asylwerbenden in Österreich kämen über Rumänien, sagte etwa auch die Migrationsexpertin Judith Kohlenberger. Das Innenministerium widersprach: Die Zahl gehe in die Tausende und sei "weit höher" als drei Prozent. Außerdem wären 260 von 460 Schleppern in Rumänien Einheimische.

Frage: Gab es bei früheren Erweiterungen ähnliche Konflikte?

Antwort: Die Aufnahme neuer Mitglieder des Schengen-Raums, für die es Einstimmigkeit braucht, lief auch in der Vergangenheit nicht immer friktionsfrei ab. Im Vorfeld des Beitritts Griechenlands 2000 kam es etwa zu Sicherheitsbedenken. Und auch Österreich hat damit Erfahrungen gemacht: Mitte der 1990er-Jahre mussten gröbere Bedenken vom Nachbarn Deutschland aus dem Weg geräumt werden. Österreich galt vor allem den Bayern als Sicherheits risiko. Österreich würde die Grenzen zu den damaligen Nicht-EU-Ländern Tschechien, Ungarn und Slowenien zu wenig schützen, hieß es damals.

Frage: Wie ist das Schengener Abkommen überhaupt entstanden?

Antwort: Relativ lange waren die EU-Mitgliedsstaaten (bzw. früher die EG) für die Bereiche Asyl und Migration allein verantwortlich. Nur in Sachen Bekämpfung von grenzüberschreitender Kriminalität wurde kooperiert. In den 1980er- und 1990er-Jahren kam es zu einem Umdenken. Die Ursachen dafür: Um einen gemeinsamen Binnenmarkt zu schaffen, wurden mit dem Schengener Abkommen (besser bekannt als Schengen I) 1985 die stationären Grenzkontrollen zwischen den teilnehmenden Staaten abgeschafft.

Konkreter Startpunkt war der 14. Juni 1985, als Deutschland, Frankreich, Belgien, die Niederlande und Luxemburg im luxemburgischen Schengen ein entsprechendes Abkommen unterzeichneten. Schritt für Schritt wurde der sogenannte Schengen-Raum dann erweitert (siehe Grafik). Hinzu kommt nach der Abstimmung am Donnerstag ab 1. Jänner 2023 auch Kroatien. Rumänien und Bulgarien bleibt dieser Schritt aufgrund des Widerstands von Österreich allerdings vorerst versagt.

Grafik: APA

Frage: Wie hat sich das Schengener Abkommen weiterentwickelt?

Antwort: Abseits der wirtschaftlichen Vorteile sahen die Regierungschefs auch Sicherheitsrisiken, da man Zuwanderungsbewegungen nicht mehr gut kontrollieren könne. Zugleich führten politische Konflikte wie beispielsweise in Jugoslawien und dem Irak sowie wirtschaftliche Krisen zu einem starken Anstieg der Asylwerberzahlen in Europa. Daher wurden Maßnahmen vereinbart, um die Politik in Sachen Zuwanderung zwischen den Mitgliedsstaaten anzugleichen und eine bessere Kooperation zwischen den nationalen Polizeibehörden zu ermöglichen.

Dazu gehört unter anderem der Maastrichter Vertrag von 1993. Darin verpflichteten sich die Mitgliedsstaaten zum ersten Mal, bei der Flüchtlingspolitik zu kooperieren. Allerdings wurde nur die Visapolitik vergemeinschaftet, andere Bereiche wie der Flüchtlingsschutz blieben unter nationaler Verantwortung. In diesem Sinne trat 1995 Schengen II (offiziell Schengener Durchführungsübereinkommen) in Kraft und ergänzte Schengen I in Sachen gemeinsame Visaregelungen und Zuständigkeiten bei Asylverfahren.

Und 2005 folgte der Prümer Vertrag (Schengen III), der die grenzüberschreitende Zusammenarbeit vor allem in den Bereichen Terrorismusbekämpfung, grenzüberschreitende Kriminalität und illegale Migration verbessern sollte.

Am slowenisch-kroatischen Grenzübergang Bregana wird es ab dem nächsten Jahr keine Kontrollen mehr geben.
Foto: AP

Frage: Können die Binnengrenzen trotzdem geschlossen werden?

Antwort: Laut Artikel 23 des Schengener Grenzkodex kann ein Mitgliedsland "im Falle einer schwerwiegenden Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder inneren Sicherheit" ausnahmsweise für einen begrenzten Zeitraum an seinen Grenzen wieder Personen kontrollieren. Die Maßnahmen dürfen höchstens 30 Tage dauern oder so lange, wie die "schwerwiegende Bedrohung" andauert.

Im Zuge der großen Flüchtlingskrise ab 2015/16 haben mehrere Staaten – darunter auch Österreich – von dieser Ausnahmeregelung Gebrauch gemacht. Und auch in der Covid-Pandemie wurden mehrfach die Binnengrenzen geschlossen.

Frage: Im Zusammenhang mit Schengen wird auch immer wieder über das Dublin-Abkommen geredet. Was ist das genau?

Antwort: Am 15. Juni 1990 unterzeichneten Belgien, Dänemark, Deutschland, Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Irland, Italien, Luxemburg, die Niederlande sowie Portugal das Dubliner Abkommen, dem zufolge jenes Land für einen Asylwerber oder eine Asylwerberin zuständig ist, in das er oder sie zuerst eingereist ist. Reist er oder sie illegal in ein anderes Mitgliedsland weiter, ist der Erststaat verpflichtet, den Asylwerber zurückzunehmen. Damit sollen mehrfache Asylanträge in verschiedenen Ländern und illegale Reisen innerhalb Europas unterbunden werden.

Dublin II konkretisierte ab 1. März 2003 die Bestimmungen des ersten Dubliner Abkommens. Verfahrensschritte wurden verkürzt, um einen Asylwerber in den verantwortlichen Mitgliedsstaat zurückzuführen. Mithilfe der europäischen Datenbank Eurodac sollten Fingerabdrücke rasch abgeglichen werden können, um die Zuständigkeit für Asylwerber innerhalb weniger Stunden abzuklären.

Aktuell gilt Dublin III vom 1. Jänner 2014, womit die Dublin-Regeln auf weitere EU-Staaten sowie über Zusatzabkommen auf Island, Liechtenstein, Norwegen und die Schweiz ausgedehnt wurden.

Frage: Und was ist jetzt der große Streitpunkt beim Dublin-Abkommen?

Antwort: Aufgrund des Dubliner Abkommens sind die Mitgliedsländer an der EU-Außengrenze stärker von Flucht- und Migrationsbewegungen betroffen, vor allem jene im Mittelmeerraum. Um diese zu entlasten, hat die EU in den vergangenen Jahren immer wieder ein Quotensystem durchzusetzen versucht, um die Angekommenen auf alle EU-Länder zu verteilen – allerdings ohne Erfolg.

Frage: Und wie geht es nun für Bulgarien und Rumänien weiter?

Antwort: Geht es nach Österreich, würde es im kommenden Sommer oder Herbst eine neue Abstimmung über den Beitritt der beiden Staaten geben. Welche Voraussetzungen dann erfüllt sein müssten, damit es ein Ja aus Wien gibt, ist unklar. Auch der niederländische Premier Rutte hat bereits vor der Abstimmung klargemacht, dass es kein klares Nein aus Den Haag sei, sondern vielmehr ein "noch nicht jetzt". Rutte kann sich ebenfalls eine erneute Abstimmung im Jahr 2023 vorstellen. Für die EU-Innenkommissarin Ylva Johansson ist es das erklärte Ziel, dass beide Staaten noch in ihrer Amtszeit zum Schengen-Raum kommen. Also bis 2024. (Kim Son Hoang, Adelheid Wölfl, Bianca Blei, Anna Sawerthal, 9.12.2022)