Historiker und Buchautor Kurt Bauer schreibt in seinem Gastkommentar am Beispiel seines Patensohns über die Probleme im Tourismusbereich.

Verzweifelte Chefs in der Gastronomie, die mangels Personals um ihr Geschäft bangten – wir erinnern uns an diese Schlagzeilen. Doch wer Einblick in die Branche bekommt, weiß, der Fachkräftemangel ist hausgemacht. Das zeigt eine kürzlich veröffentlichte Studie der Universität Wien für die AK Oberösterreich. Auch mein afghanischer Patensohn Karim* kann davon ein Lied singen.

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Die Gäste kommen wieder, nur wo ist das Personal? Sehr häufig wird über Arbeitskräftemangel geklagt.
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Gegen Ende November 2019 ein Anruf aus dem Lungau: Die neuen Lehrlinge mögen kommen. Bevor in zwei Wochen die Skisaison beginne, wolle man ihnen die Basiskenntnisse vermitteln. Klingt vernünftig. Zwei Tage später stehe ich mit Karim vor dem Hotel. Eine riesige Baustelle, es wird groß umgebaut. Unvorstellbar, dass hier in wenigen Tagen Gäste einchecken sollen. Von Lehrlingseinschulung kann tatsächlich keine Rede sein. Stattdessen zehn bis zwölf Stunden Schwerarbeit auf der Baustelle, sechs Tage die Woche, ohne geeignetes Schuhwerk, Kleidung oder Versorgung. Die müssen sie sich bis zum Öffnen der Küche selbst besorgen, der nächste Supermarkt ist sechs Kilometer entfernt.

In derselben Tonart geht es weiter, als das Hotel nach gnadenloser Ausbeutung aller vorhandenen Kräfte doch noch rechtzeitig öffnet. Wenn das halbe Housekeeping-Team nach wenigen Tagen hinschmeißt und verschwindet, müssen halt die Restaurantlehrlinge ran. Selbstredend vor oder nach dem Kellnern. Überstunden ohne Ende sind inklusive – gratis, versteht sich.

Mit freundlicher Hilfe

Im Jänner 2020 findet sich mit kompetenter, freundlicher Hilfe eine neue Lehrstelle im Pinzgau. Hier ist es hundertmal besser. In dem Vier-Sterne-Plus-Hotel werden alle arbeitsrechtlichen Vorschriften streng eingehalten, es gibt freie Benützung des großen Wellness- und Fitnessbereichs, beste Versorgung und ein neues Personalwohnheim mit schönen Appartements. Glück gehabt.

Corona kommt, monatelang ist alles zu, extrem schwer zu ertragen – wie für alle jungen Menschen. Karim sattelt nach einem Jahr und der mit Auszeichnung absolvierten ersten Berufsschulklasse von Kellner auf Hotel-Gastgewerbe-Assistent um. Eine ungleich anspruchsvollere Ausbildung, die auf das mittlere Hotelmanagement vorbereiten soll. Karim hat das Zeug dazu.

Nach und nach stellt er fest, dass jenes Hotel im Lungau keineswegs eine unrühmliche Ausnahme war. Afghanische und syrische Freunde, die als Gastronomielehrlinge untergekommen sind, erzählen Ähnliches. Und Schlimmeres. Auch die Kollegen in der Berufsschule – durchwegs keine Migranten – haben ihre Erfahrungen gemacht: Du bist als Lehrling nichts als eine billige Arbeitskraft, Tellerträger, Abwäscher, Kloputzer, Kofferschlepper. Freilich gibt es objektive Gründe dafür: So gut wie alle Betriebe leiden an Personalnot. Immer sind zu wenig Hände da, alle müssen ran, Stress ist in dieser Branche geradezu endemisch. Und so hat selten jemand Zeit, sich ernsthaft um die Ausbildung der Lehrlinge zu kümmern.

"Das größte Problem: Das Gastgewerbe zahlt verdammt schlecht. Selbst große Unternehmen sind kaum bereit, über den bescheidenen Kollektivvertrag hinauszugehen."

Einiges wird sich kaum ändern lassen. Die unattraktiven Arbeitszeiten etwa – besonders ungut: vom frühen Morgen bis Mittag und dann nach mehrstündiger Unterbrechung wieder am Abend. Dazu die vielen verlorenen Wochenenden. Das ganze Leben ist auf einen Dienstplan ausgerichtet, der sich jede Woche ändert. Und was soll junge Migranten dazu bewegen, sich auf längere Zeit in einer abgelegenen Alpenregion anzusiedeln? Unter fremden, kühl-distanzierten Menschen, ganz ohne Familie, Freunde, abgeschnitten von der migrantischen Community, die sich nun mal in den Hauptstädten drängt.

Das größte Problem: Das Gastgewerbe zahlt verdammt schlecht. Selbst große Unternehmen sind kaum bereit, über den bescheidenen Kollektivvertrag hinauszugehen. Einer von Karims Freunden lässt sich im Raum Wien zum Karosseriebautechniker ausbilden. Im letzten Lehrhalbjahr liegt er bei 1350 Euro netto, mit den Überstunden und diversen Prämien können es schon mal 2000 Euro und mehr sein. Karim kommt zum gleichen Ausbildungsstand auf 924 Euro. Für den anstrengenden Nachtdienst an der Rezeption gibt es 23 Euro drauf. Der Karosseriebautechniker liegt in einem ähnlichen Bereich für Nachtarbeit – freilich pro Stunde und nicht wie Karim für die ganze Nacht. Nach Lehrabschluss wird das Anfangsgehalt des Karosseriebautechnikers bei 1900 Euro netto plus kräftigen Zuschlägen für Nachtarbeit und Überstunden liegen. Karim würde in seinem Hotel nach der erfolgreich absolvierten Lehre mit 1400 Euro netto starten. Dabei ist seine Arbeit an der Rezeption eines Luxushotels bestimmt nicht weniger anspruchsvoll und mindestens ebenso fordernd wie die seines Freundes.

Mehr Geld, fixe Arbeitszeiten

Am Ende der dritten Berufsschulklasse hat Karim seine Kolleginnen und Kollegen befragt, was sie nach dem Lehrabschluss machen wollen. Die Antwort: 60 Prozent werden sofort aus der Gastronomie aussteigen. Und die anderen? Deren Eltern besitzen selbst ein Hotel oder Restaurant, das sie später übernehmen sollen.

Und er, Karim, wird er dem Gastgewerbe erhalten bleiben? Noch einmal einsteigen würde er in diese Branche nicht. Aber nach Ende der Lehre, was soll er nun tun? Welche Alternativen hat er? Wenn man ihn fragt, was in der Gastronomie besser werden muss, sagt er: mehr Geld, fixe Arbeitszeiten, freie Wochenenden, bessere Ausbildung, faire Arbeitsbedingungen. Ob die Branche das auch erkennt?

Das mit den fixen Arbeitszeiten und den freien Wochenenden ist illusorisch, das weiß auch Karim. Aber bei den Arbeitsbedingungen und der Ausbildung, da sollte es keine Ausreden geben, findet er. Und mit einer ordentlichen, leistungsgerechten Entlohnung, mit der man im teuren Alltag einigermaßen über die Runden kommen kann, muss es anfangen. Das ist die Grundbedingung. Wer will schließlich sein Leben lang der Dumme sein? (Kurt Bauer, 10.12.2022)