Im Gastblog analysieren die Künstlerin Mitra Shahmoradi und der Politikwissenschafter Heinz Gärtner die Protestbewegung im Iran.

Die Bewegung im Iran macht deutlich, dass die Moderne in der iranischen Gesellschaft bereits viel weiter fortgeschritten ist, als es das bestehende System akzeptieren will. Die Proteste im Iran, die sich zu Beginn äußerlich gegen die Kopftuchpflicht der Frauen richteten, haben sich ausgeweitet. Die Protestierenden wollen die herrschende Bevormundung nicht mehr dulden, ebenso wenig den Umstand, dass die Religion ihr gesamtes Leben bestimmt.

Begannen die Proteste aufgrund der Kopftuchpflicht, haben sich die Forderungen auf viele weitere Felder ausgedehnt.
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Der Ruf des Protestes nach Ende der Diktatur und nach Freiheit ist aber iranisch und nicht notwendigerweise westlich. Zu Beginn hieß der Slogan "Frau, Leben, Freiheit", er wurde erweitert durch "Mann, Heimat, Wohlstand". Bei genauerem Hinsehen geht es darum, dass die Jugend ihren Iran zurückerobern will. Das Land soll vor allem einheitlich bleiben. Es soll alle sozialen, regionalen, ethnischen und religiösen Schichten und Gruppierungen beiderlei Geschlechts umfassen. Das steht im direkten Gegensatz zu den Wünschen einiger politischer Entscheidungsträger im Westen und auch in der Region, die die Schwächung und den Zerfall des Iran entlang religiöser und ethnischer Nationalitäten kommen sehen.

Viele Forderungen der Bewegung sind nicht neu; sie waren schon Triebkräfte der iranischen Revolution von 1979, die sich gegen das prowestliche Regime des Schahs richtete. Ein Großteil von ihnen blieb allerdings nicht nur unerfüllt, sondern das darauffolgende religiöse System war gewissermaßen eine Fortsetzung der vorherigen politischen Diktatur. Nicht zufällig ähneln sich daher auch die Slogans. Die Forderungen nach Abschaffung der Folter, der Todesstrafe und der Zensur, Freilassung der politischen Gefangenen, soziale Gleichheit und internationale Unabhängigkeit (damals von den USA, heute von Russland und China) sind verbunden mit derjenigen nach dem Ende der autoritären Herrschaft, damals der prowestlichen, diesmal der religiösen. Die Sehnsucht nach politischer Freiheit hat schon ihre Basis in der Verfassungsrevolution von 1906.

Rolle der Frauen

Die Frauen haben bei den aktuellen Demonstrationen eine sichtbare Rolle übernommen. Sie sind auch stolz darauf, dass sie in der Welt nicht mehr als schwache, unterdrückte und identitätslose Wesen wahrgenommen werden. Sie waren schon bei der Verfassungsrevolution aktiv und haben selbst beim bewaffneten Widerstand mitgewirkt. Ihnen wurde das Wahlrecht aber danach nicht gewährt; sie konnten es 1963 erkämpfen. Die Frauen waren auch bei vielen Aktionen vor und während der iranischen Revolution von 1979 im Einsatz. Sie wurden aber von der Islamischen Republik stark enttäuscht. Es wurden frauenfeindliche Gesetze erlassen und der Kopftuchzwang eingeführt. In der iranischen Zivilgesellschaft hatten die Frauen seit vielen Jahrzehnten eine zentrale Bedeutung. Diese Bewegung hat das Ziel, was die jungen Menschen im Iran in Gesprächen mit uns betont haben, dass sie ohne Führer oder Führerin zurechtkommen wollen.

Die Zivilgesellschaft im Iran ist dynamisch. Sie wurde aber nicht nur durch das Regime, sondern auch durch die westlichen Sanktionen stark eingeschränkt. Eine Aufhebung der Sanktionen im Rahmen des Nuklearabkommens würde ihre Kommunikations- und Handlungsmöglichkeiten, eventuell auch ohne Aufstände, erhöhen. Eine Änderung der Normen und Öffnung der iranischen Gesellschaft sind wichtiger und nachhaltiger als ein unmittelbarer Sturz des Systems. Nach 1979 gab es zwar einen Regimewechsel, viele autoritäre Regeln sind aber geblieben, neue Vorschriften wurden zusätzlich erlassen. Das jetzige Regime oder eine andere Regierungsform wird gezwungen sein, eine Anpassung an diese neue Entwicklung anzuerkennen und umzusetzen. (Mitra Shahmoradi, Heinz Gärtner, 12.12.2022)