Dublin

Es ist 7.11 Uhr, es hat zwölf Grad, noch ist es finster. Abwechselnd trägt der Wind den Geruch von totem Fisch und den beißend-süßlichen Gestank der Kläranlage über die Straße. Claudia Plakolm, die österreichische Jugendstaatssekretärin, joggt an einer Kolonne parkender Lastwagen mit irischen Kennzeichen vorbei. Sie hat schon fast sechs Kilometer zurückgelegt, ist aber kein bisschen außer Atem, obwohl sie pausenlos spricht und sonst angeblich kaum Sport macht. Plakolm hat richtig gute Laune – wie immer.

"Wenigstens kann ich noch riechen", kommentiert sie gleichzeitig Gestank und Pandemiefolgen und schaut auf ihr Handy: "Bald sollten wir zur Küste kommen und den Leuchtturm sehen." Sie ist heillos pragmatisch und trotzdem Vertreterin des Prinzips Hoffnung. In den Augen vieler in der ÖVP ergibt das genau jene Mischung, die die Partei gerade braucht.

Politische Inszenierung

Plakolm ist auf Dienstreise in Dublin, um den irischen Jugendminister zu treffen; und auf Dienstreisen joggt sie. Das hat ihre Pressesprecherin schon vor Abflug gesimst: "Die Chefin geht in der Früh immer laufen, wenn wir unterwegs sind, und freut sich über Begleitung." So sehe sie zumindest ein "bissl wos" von der Stadt, erklärt Plakolm in dem breiten Oberösterreichisch, das sie immer spricht, obwohl sie auch Hochdeutsch beherrscht. Vielleicht ist es nur ein Schaulauf für mitreisende Journalistinnen und Journalisten.

Auf Dienstreisen gehe Jugendstaatssekretärin Plakolm joggen, um "bissl wos" von den Städten zu sehen, wie sie sagt.
Foto: STANDARD/mika

Plakolm ist nicht der Typ für schmalzige Inszenierung, aber es ist ihr kaum etwas zu blöd oder peinlich. Kürzlich ließ sie sich für ihren Tiktok-Account beim "Beer Pong" mit ÖVP-Seniorenbundpräsidentin Ingrid Korosec filmen – einem Trinkspiel, bei dem man Tischtennisbälle in Becher wirft. Dass die Polit-Grande-Dame Korosec da mitmacht, verwundert einen nur, wenn man Plakolm nicht kennt: Die Jugendstaatssekretärin ist eine begnadete Netzwerkerin und ein Überredungstalent, immer freundlich, lustig, parteilinientreu. Ganz anders als etwa Laura Sachslehner, die gerade als ÖVP-Generalsekretärin zurückgetreten ist. Sachslehner verfolgt eine ideologisch aufgeladene Mission, Plakolm will einfach Politik machen – und sie weiß genau, wie man in der Volkspartei weiterkommt: nicht durch Rebellion, sondern durch Anpassung. Und ganz nebenbei setzt sie gezielt Themen, mit denen sie auffallen möchte – in Abstimmung mit der Partei.

Plakolm ist erst 27, aber im Grunde seit bald zehn Jahren in der Politik. Im Jahr 2015 zog sie in den Gemeinderat in ihrem Heimatort Walding ein, seit 2016 gehört sie dem oberösterreichischen Landesparteivorstand an. 2017 wechselte sie als jüngste Abgeordnete in den Nationalrat. 2020 übernahm sie die Junge Volkspartei. Zur Garagenparty anlässlich ihres 25. Geburtstags kamen sämtliche Parteigranden Oberösterreichs – allesamt ältere Herrschaften. Bei den Grünen wird gerne gespottet: Im Geiste war Plakolm schon immer 20 Jahre älter als in ihrem Pass. Für diese These sprechen weitere Anekdoten.

Fachkraft Posaunistin

Als Plakolm in die Schule kam, war klar, dass sie ein Instrument lernen soll. Eigentlich wollte sie Querflöte spielen. "Aber alle Mädchen wollten Querflöte spielen", erinnert sie sich. "Also habe ich mir überlegt: Wo gibt es Fachkräftemangel in der Musi?" Sie meint damit den Blasmusikverein. So wurde Plakolm zur Posaunistin. Posaune spielen vor allem alte weiße Männer – und eben Claudia Plakolm. Als sie vor einem Jahr ins Staatssekretariat berufen wurde, war ihre blitzblaue "Festivalposaune" auf zahlreichen Fotos zu ihren Antrittsinterviews zu sehen. Das ist nicht zufällig passiert. Die Posaune stand prominent platziert in ihrem Büro.

Plakolm kurz nach ihrem Amtsantritt vor einem Jahr.
Foto: Regine Hendrich

Die Idee dahinter ist inzwischen angekommen. Wenn man Menschen bittet, Plakolm zu charakterisieren, fällt fast immer ein Begriff: Bodenständigkeit. Plakolm ist tatsächlich bodenständig. Sie will sich aber auch exakt so wahrgenommen wissen. Das Zweite, das vielen zu Plakolm einfällt, ist ihr Ehrgeiz – und gemeinsam umschreibt das perfekt ihre Dualität. Sie ist eine schwarze Oberösterreicherin mit besten Kontakten bis in die Wurzeln der ÖVP-Landespartei. Gleichzeitig wurde sie in der türkisen JVP sozialisiert, der Jungen Volkspartei unter der ehrgeizigen Führung von Sebastian Kurz. Sie kennt beide Welten: Die alte und die neue Volkspartei – und grätscht dazwischen.

In dieser Grätsche schafft sie es, altbacken und trotzdem immer wieder aufgeschlossen zu sein. Ihren Sommerurlaub verbrachte sie – "um nicht aufs Jungsein zu vergessen" – mit einer "Mädelsrunde am Grundlsee" und beim "Woodstock der Blasmusik", einem Freiluftfestival in Oberösterreich. Dazwischen kritisierte sie als einzige ÖVP-Politikerin das Abtreibungsverbot in den USA als "erschreckenden Rückschritt ins Zeitalter der Engelmacherinnen". Sie fordert leistbares Wohneigentum, aber auch Strafen für das Versenden von "Dick-Pics", ungefragten Fotozusendungen männlicher Genitalien. Mit den Grünen verkündete sie stolz das Ende des Blutspendeverbots für schwule Männer. Plakolm ist so etwas wie eine moderne Blasmusik-Traditionalistin. Könnte so die Zukunft der ÖVP aussehen?

Tallinn

Florian Tursky ist spät dran. Sein Team sitzt beim Frühstück, er wirft sich am Hotelbuffet noch schnell etwas Ei mit Speck und Obst auf den Teller. Er ist auf Dienstreise in Tallinn, um den "Digital Summit 2022" zu besuchen. "8.40" zeigt seine Apple Watch an, Abfahrt in fünf Minuten. Der Digitalisierungsstaatssekretär kommt gerade aus einem Crossfit-Studio, das er sich noch in Wien herausgesucht hatte. Er macht mindestens fünfmal die Woche Sport, Ausreden gibt es für ihn keine, auch nicht im Ausland. Mit 18 Jahren wog er 110 Kilo. Dann nahm er 40 Kilo ab und hält das Gewicht seither – nicht durch Zufall, sondern mit Plan.

Keine Visitenkarten

Tursky ist auf den ersten Blick unaufgeregt und locker, in Wahrheit aber auch ehrgeizig und kontrolliert. Seinem Team verbietet er die Anschaffung von Visitenkarten aus Papier. Kontaktdaten müssen übers Handy weitergegeben werden im Digitalisierungsstaatssekretariat – weniger aus Überzeugung als aus Prinzip. Im Flugzeug hat Tursky jede Minute genutzt, um sich mittels iPad auf seine Termine in Tallinn vorzubereiten. Öffentlich fällt er selten auf, doch jeder, der ihn kennt, sagt: Tursky hat Ambitionen.

Journalistinnen und Journalisten kannten ihn bis vor ein paar Monaten vor allem, weil er einige Jahre lang für den erzschwarzen Tiroler Landeshauptmann Günther Platter gearbeitet hat. Platter ist ein Urgestein der Volkspartei; ein volkstümlicher Konservativer, der kurz nach Turskys Wechsel nach Wien seinen Rücktritt erklärte. Tursky hingegen lässt sich nur ungern als konservativ abstempeln. Vielmehr sei er in Innsbruck aufgewachsen, ein Stadtmensch, eher liberal und bürgerlich. Zur ÖVP fand er über den Cartellverband, die schwarze katholische Studentenverbindung. Sein Verbindungsname dort lautet "Aeneas". Im Jänner wurde er von Platter zum "Hofrat" ernannt. Mit 33.

Im Hotel bestellt er noch schnell einen schwarzen Kaffee, den er "Americano" nennt und mit seiner Uhr bezahlt. Auch Tursky ist in einer schwarzen Landesgruppe sozialisiert, aber mit dem Wort "bodenständig" charakterisiert ihn kaum jemand. Er ist in Wien, Innsbruck und Zürich zu Hause, wo seine Freundin lebt. Tursky sei ein hochpolitischer Kopf und guter Stratege, sagen Leute aus seinem Umfeld.

Situationselastisch

Wo er beim Thema Migration und Asyl innerparteilich zu verorten ist? Versteht er sich als Anhänger harter Ansagen mit Zweifeln an der Menschenrechtskonvention, oder ist er doch eher gnädig christlich-sozial? "Den Kurs von Sebastian Kurz habe ich zu dieser Zeit für richtig gehalten, jetzt ist mit dem Ukraine-Krieg die Situation aber eine ganz andere und der Umgang damit genauso richtig", sagt er.

Florian Tursky wurde im Jänner vom damaligen Landeshauptmann Günther Platter zum "Hofrat" ernannt. Mit 33.
Foto: Robert Newald

Man könnte die Antwort so deuten: Er redet um den heißen Brei herum, will sich nicht festlegen. Noch mehr beschreibt sie aber Turskys Haltung in vielen politischen Fragen: Er betrachtet die Welt situationselastisch. "Die Politik wird gerade entideologisiert", ist er überzeugt. Es gebe kaum noch klassischen Sozialismus, Konservatismus, Liberalismus. Moderne Politikerinnen und Politiker, sagt Tursky, seien Pragmatiker. So sehe er sich auch selbst.

"Jetzt müssen wir aber los", treibt er seine Referentin freundlich beim Frühstück an. Normalerweise ist es umgekehrt: Spitzenpolitiker werden von ihren Mitarbeitern ständig auf die Zeit hingewiesen. Tursky hat den Terminplan für die Reise hingegen selbst minutengenau im Kopf. Im Mai ist der 34-Jährige in die erste politische Reihe gewechselt. Davor war er PR-Berater, er scheiterte als Start-up-CEO, dann wurde er erst Platters Pressesprecher und später dessen Büroleiter – immer im Hintergrund.

Platters geheime Pläne

Dabei war Tursky schon öfter für Topjobs in Wien im Gespräch, doch vorerst blieb er in Tirol. Im März weihte ihn Platter als einen von fünf Menschen in seinen Plan ein, noch vor der Tirol-Wahl das Feld zu räumen. Seinen Schritt gab der damalige Landeschef im Juni bekannt – ohne dass irgendetwas durchgesickert war. Auch Diskretion gilt in der Politik als Kapital.

Dublin

Claudia Plakolm hüpft über einen überfahrenen Vogel, der platt auf dem Asphalt klebt. "Ich wollte gar nie Politikerin werden", sagt sie und läuft unbeirrt weiter Richtung Küste. Laut ihrem iPhone hat sie bereits sieben Kilometer zurückgelegt. "Und eigentlich will ich noch immer nicht Politikerin sein." Sie lacht.

Jeder im Kanzleramt und rundherum, in den schwarzen Ländern und der ÖVP-Parteizentrale hält Plakolm für eines der großen politischen Jungtalente der Volkspartei. In Zeitungen wurde sie als JVP-Chefin und Staatssekretärin mehrfach als jene Frau beschrieben, die in den Fußstapfen von Sebastian Kurz joggt. Und eigentlich hat sie gar kein Interesse? Obwohl mehr oder weniger ihr ganzes Leben, seit sie mit 17 Landesschulsprecherin war, auf eine Laufbahn in der Politik ausgerichtet ist?

Sie halte sich das offen, sagt Plakolm nüchtern. Schließlich sei sie noch jung. Studiert hat sie Wirtschaftspädagogik. Für den Abschluss fehle ihr nur noch die Diplomarbeit, die sie wegen des Jobs im Staatssekretariat aufschieben musste. "Vielleicht werde ich ja irgendwann Lehrerin", spinnt sie den Gedanken weiter und lacht noch einmal.

Vermutlich kokettiert sie bloß, vielleicht will sie nur davon ablenken, dass sie zielgerichtet die Laufbahn einer Polit-Karrieristin hinlegt. "Die Claudia weiß genau, wie man in der Politik was wird", sagt auch jemand aus der ÖVP-Jugendorganisation, der sie gut kennt.

Tallinn

Florian Tursky steht in einer dunklen Halle neben einem türkisen Scheinwerfer – die Wände sind aus Backstein, alte Rohrkonstruktionen lassen auf eine stillgelegte Fabrik schließen. Es ist ein alter Bau, der modern in Szene gesetzt wurde. Tallinn gilt als die digitale Hauptstadt Europas – dementsprechend ist der "Digital Summit" ein Top-Event, Gastgeberin ist die estnische Ministerpräsidentin persönlich. Tursky bekommt einen türkisen Anhänger mit Besucherkarte um den Hals gehängt. "Wie passend", sagt jemand – in Anspielung auf die Farbe der Volkspartei seit der Umfärbung unter Sebastian Kurz. "Na ja, das kann man mir schwer umhängen", witzelt Tursky. Er meint damit: Er sei doch ein Schwarzer – sein Ex-Chef Platter hat sich stets gewehrt, die Tiroler Landespartei türkis einzufärben.

Kurz warb für Tursky

Ganz so einfach ist die Zuordnung Turskys allerdings nicht. Es liegt ein Chat aus dem Jahr 2017 vor, in dem Kurz persönlich im Finanzministerium für Tursky wirbt. Der sei ein "guter Freund" und "super Typ". Den damaligen Finanz-Generalsekretär Thomas Schmid bat Kurz, sich mit Tursky – der zu dieser Zeit einen Job suchte – doch einmal zu treffen. Tursky ging dann aber zu Platter und nicht nach Wien. An dem Chat will er nichts Verwerfliches erkennen: "Es gibt ja schlimmere Dinge, als dass die Leute von einem auch gut sprechen", sagt er.

Tursky auf dem Weg nach Tallinn, aufgenommen von einem Fotografen des Bundeskanzleramt, den er mitgenommen hat.
Foto: BKA/Dunker

Auch mit dem heutigen Kanzler Karl Nehammer pflegt Tursky schon lange ein freundschaftliches Verhältnis. Er ist jemand, der versteht, wie man sich mit allen gut stellt. Als Staatssekretär spielt ihm dabei auch sein Thema in die Hände: Die Digitalisierung sei unideologisch, ist er überzeugt. Vermutlich hätte er auch jedes andere Ressort übernommen, das Nehammer ihm angeboten hätte. Seinen Job nimmt er nun trotzdem ernst – auch wenn sich das Thema nur selten mit großen Erfolgen vermarkten lässt. Er sei wahrlich kein "Tech-Nerd", sagt jemand aus seinem Umfeld. "Aber er ist ein Anpacker."

Die ersten zwei Monate im Amt verbrachte Tursky damit, zu verstehen, was zu tun ist – und zu suchen, was er daraus machen kann. Margarete Schramböck, die das Thema Digitalisierung als Ministerin innehatte, sei vor allem an ihrer miserablen Kommunikation gescheitert, wurde in seinem Ressort analysiert. Deshalb will Tursky nun vor allem Vorhaben kommunizieren, die eingängig und verständlich sind – und das ist vieles, an dem Turskys Leute arbeiten, nicht.

Use-Cases-Vermarktung

Die entscheidende Aufgabe, die er für die Digitalisierung Österreichs ausgemacht hat, ist die Zusammenführung von jenen Registern, in denen im Hintergrund die verschiedenen staatlich relevanten Daten aller Bürgerinnen und Bürger liegen. Doch das ist weder eingängig noch verständlich. Also konzentriert Tursky sich darauf, mit den seltenen Resultaten einer Registerzusammenführung aufzufallen: Im Oktober hat er den digitalen Führerschein präsentiert. Digitale Neuerungen brauchen Use-Cases, sagt Tursky – also praktische Anwendungsfälle im Alltag.

Irgendwann sollen die Österreicher nur noch eine digitale Brieftasche am Handy haben, in der alle amtlichen Dokumente abrufbar sind. Es gehe dann auch niemand mehr persönlich aufs Amt, sondern bloß noch ins Internet. So lautet Turskys Vision – zumindest bis seine Amtszeit endet. Doch auch da ist er pragmatisch: "Das ist schon ein eher längerfristiges Projekt."

Dublin

Claudia Plakolm wollte eigentlich nur "für 30 Minuten eine kleine Runde joggen", inzwischen hat sie acht Kilometer zurückgelegt, und die Küste ist noch immer nicht in Sicht. Ihre Schwester, erzählt sie, habe sich als Kind für ein "asoziales Instrument" entschieden. Sie könne das bis heute nicht verstehen: Gitarre! "Die braucht doch die Blasmusik nicht", sagt Plakolm. "Davor hat sie auch noch zwei Jahre Blockflöte gelernt – fürs Gitarrespielen völlig vergeudete Jahre."

Plakolm hat zwei ältere Schwestern und einen Bruder – von ihren Geschwistern sei sie die Einzige, die sich für Politik interessiere. Der Vater ist ÖVP-Bürgermeister von Walding, dem Heimatort der Familie. Als Bürgermeister-Töchterchen will sich Plakolm aber nicht abkanzeln lassen: "Der Papa ist 2015 gewählt worden, da bin ich auch selber schon in den Gemeinderat eingezogen."

WG mit dem Bruder

In Wien teilt sich Plakolm heute mit ihrem Bruder eine WG. Die Hauptstadt sei aber bloß ihr "Arbeitsort". "Mein Lebensort bleibt Walding", sagt sie. Einmal pro Woche fährt sie zu ihren Eltern, geht dort zum Blasmusikverein und auf den Wochenmarkt. Das sei ihr wichtig, denn dort sei sie gewählt worden, sagt Plakolm. "Man will ja nicht die Politikerin aus Wien sein, der nachgesagt wird, sie traut sich nicht mehr nach Hause."

Auf die ganzen Affären und Skandale ihrer Partei würde sie auf der Straße kaum angesprochen, behauptet sie. Ein Korruptionsproblem habe die ÖVP nicht – nicht dort, wo sie herkomme.

Tallinn

Florian Tursky spaziert vom Kongressgelände in Richtung Altstadt. Die österreichische Botschaft hat für ihn eine kurze Stadtführung durch Tallinn organisiert. Wie das in Estland nach dem Zweiten Weltkrieg gewesen sei – nach der Befreiung durch die Sowjetunion, fragt Tursky. Die Stadtführerin stockt und klärt ihn dann auf, dass es sich um eine neue Form der Besatzung und keine Befreiung gehandelt habe. Tursky nickt, hört zu, stellt Nachfragen. Es ist ihm nicht unangenehm, wenn er etwas nicht weiß. Und er versteht, wie man Menschen Interesse signalisiert – das lernt man in der Landespolitik. "Können wir dann alle noch irgendwo auf ein kleines Bier gehen?", fragt er in die Runde.

Die Volkspartei 4.0?

Plakolm und Tursky ähneln einander nicht wirklich, aber sie eint die grundlegende Denke: Sie wollen bürgerliche Politik machen – je nach Thema wahlweise mit liberalem oder konservativem Einschlag – und haben dabei einen erzpragmatischen Zugang. Parteigrenzen verlaufen für sie schwimmend. Das System hat schon Kurz aufgebrochen, als er die Idee zu vermarkten begann, dass sich die ÖVP nun auch um Niedrigverdiener kümmert. Gleichzeitig haben Plakolm wie auch Turksy tief verinnerlicht, wie die Volkspartei in den Ländern tickt – und ticken muss, damit sie dort ankommt.

Tursky und Plakolm auf der Regierungsbank des Parlaments.
Foto: Parlamentsdirektion/Thomas Jantzen

Könnte das die Stoßrichtung für die Volkspartei 4.0 sein? Nach der alten, verzopften Variante, nach der gescheiterten Ära Kurz, wenn dann Nehammer irgendwann nicht mehr will oder kann und eine neue Generation die ÖVP übernimmt?

"So wie die zwei Politik verstehen, das ist auf jeden Fall die Zukunft der Partei", sagt selbst jemand aus dem Umfeld des aktuellen Kanzlers. Man muss dazu sagen: Viele willige Junghoffnungen zur Umsetzung eines neuen Tatplans hat die ÖVP nicht mehr. Die meisten jungen Türkisen sind mittlerweile in die Privatwirtschaft geflohen. Übrig bleiben die jungen Schwarzen aus den Ländern mit türkisen Einsprengseln für die Zukunft der schwerbeschädigten Partei. Vermutlich sind Plakolm und Tursky derzeit auch als Hoffnungsträger alternativlos, da ohne Konkurrenz.

Dublin

Langsam geht die Sonne auf. Claudia Plakolm joggt noch immer nicht zurück in Richtung Hotel, wo sie in 40 Minuten zu ihrem ersten Termin abgeholt wird. Plakolm kümmert das wenig, obwohl sie schon deutlich länger als 40 Minuten läuft. Sie will zur Küste und den Leuchtturm sehen.

Kind zeugen, Haus bauen

Missverstanden habe sie sich in ihrem politischen Leben zumindest einmal gefühlt, erzählt sie. Plakolm hat einst ein Video aufgenommen, in dem sie sagt, dass man bis zum 30. Geburtstag ein Kind zeugen, ein Haus bauen und einen Baum pflanzen müsse. Der Spruch sei nur als Witz gedacht gewesen – im Rahmen einer Grußbotschaft, erklärt Plakolm. Aber so ganz verstehe sie das Problem auch nicht: "Es stimmt ja, das ist der legitime Wunsch vieler junger Menschen."

Sie selbst wolle auch irgendwann wieder nach Oberösterreich ziehen. Ob es ihr Ziel ist, Landeshauptfrau zu werden? "Das werde ich irgendwie oft gefragt", antwortet sie und lenkt ab: "Da noch abbiegen!"

Endlich, das Meer – und am Ende des gepflasterten Weges ein Leuchtturm. Plakolm sprintet hin und macht ein Selfie. Kilometer zehn. Das Foto könne sie vielleicht für Instagram brauchen, sagt sie. (DOPPELPORTRÄT: Katharina Mittelstaedt, 11.12.2022)