Für Gabrielius Landsbergis hat Russland eine "geopolitische Wende für ganz Europa" in Gang gesetzt.

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Die baltischen Staaten Litauen, Lettland und Estland, die einst nicht nur dem sogenannten "Ostblock" angehörten, sondern direkt Teile der Sowjetunion waren, sind heute allesamt Mitglieder von EU und Nato. Durch die Aggression Russlands gegen die Ukraine fühlen sie sich in besonderem Maße bedroht. Der litauische Außenminister Gabrielius Landsbergis hält Pragmatismus dabei für die falsche Antwort: Der Westen müsse seine Prinzipien konsequent verteidigen, ansonsten würde er sich nur noch größeren Gefahren aussetzen.

STANDARD: Ihr Besuch in Wien wurde zum Teil überschattet von der Debatte über das österreichische Nein zum Schengen-Beitritt Rumäniens und Bulgariens. Wie haben Sie das als Außenminister eines Schengen-Staates wahrgenommen?

Landsbergis: Ich glaube, die Europäische Kommission sollte in der Diskussion eine aktivere Rolle spielen. Sie sollte wirklich hören, was Österreich will, und als Moderatorin auftreten, anstatt nur abzuwarten und zu reagieren. Jetzt ist die Situation ziemlich angespannt – hier in Wien, sicher auch in Bukarest, und sicher auch nächste Woche beim Europäischen Rat in Brüssel.

STANDARD: Die Einigkeit innerhalb der EU wird vor allem durch Russlands Krieg gegen die Ukraine auf die Probe gestellt. Die politischen Interessen und historischen Erfahrungen der EU-Staaten sind oft unterschiedlich. Wo steht Litauen, das ja sogar Teilrepublik der Sowjetunion war?

Landsbergis: Russland hat ein sehr dunkles Kapitel der europäischen Geschichte geöffnet, vielleicht sogar der Weltgeschichte. Aber unsere Wahrnehmung der Gefahr hat sich nicht dramatisch verändert. Wir waren uns der Bedrohung, die von Russland ausgeht, bereits vorher bewusst. Die Frage war nur, wann und wo es zu einem Angriff kommt. In der Debatte darüber, wie dieser Krieg enden kann, sind wir nun in einer ähnlichen Situation. Wenn er nicht mit Russlands Niederlage auf dem ukrainischen Schlachtfeld endet, dann werden viele Menschen in Litauen wieder dieselbe Frage stellen: Wer wird wann als nächstes angegriffen?

STANDARD: Was aber bedeutet "Niederlage Russlands"? Die Begriffe, mit denen ein mögliches Ende des Krieges beschrieben werden, sind oft schwer zu fassen.

Landsbergis: Ich glaube, man kann darauf leichter antworten, indem man über Werte und Prinzipien spricht. Wenn wir diese verteidigen wollen, ist die Antwort klar: Siegen heißt, dass die Ukraine ihr Territorium zurückbekommt. Dann fragen viele Leute: Was, das ganze Territorium? Ja, das ganze! Entweder wir stehen zu unseren Prinzipien oder nicht. Und wir stehen zu ihnen. Andernfalls gehen die Prinzipien selbst verloren, und wir sind alle Superpragmatiker. Ich glaube, dass Pragmatismus im Umgang mit einer aggressiven Diktatur nirgendwo hinführt. Die Diktatur wird immer wieder ihre Forderungen hochschrauben und irgendetwas dafür verlangen, dass sie die Lage nicht eskalieren lässt. Die Prinzipien, die die Ukraine verteidigt, sind für uns alle, auch für Österreich und Litauen, extrem wichtig: Sicherheit der Grenzen, Souveränität, Freiheit, Demokratie. Wenn wir erlauben, dass sie verletzt werden, sind wir alle in Gefahr.

STANDARD: Wie sehen Sie vor diesem Hintergrund die österreichische Neutralität? Hat sie einen Platz in der Welt von heute?

Landsbergis: Jedes Land ist frei, seinen eigenen Weg zu wählen. Derzeit werden aber viele Dinge in Frage gestellt. Das, was Russland in Gang gesetzt hat, bedeutet eine riesige Veränderung, eine geopolitische Wende für ganz Europa. Ich glaube, dass die Nato die beste Sicherheitsgarantie für uns ist. Und auch in neutralen Staaten hat die Diskussion darüber, ob die Neutralität eine gute Sache ist, wenn man ein Land wie Russland in der Nachbarschaft hat, längst begonnen.

STANDARD: Wie weit sollten die EU-Sanktionen gegen Russland gehen? Es muss ja in vielen Bereichen, nicht nur in der Energiepolitik, über unterschiedliche Interessen verhandelt werden. Sind das alles nur Diskussionen unter Freunden, oder ist die europäische Einheit in Gefahr?

Landsbergis: Wir hatten in der EU viele freundliche, aber harte Gespräche. Es gibt etwa immer wieder Diskussionen darüber, wem die Sanktionen mehr schaden. In Litauen weisen wir darauf hin, dass für die Sanktionen Russland verantwortlich ist. Es ist nicht unsere Schuld, wenn die Energiepreise steigen. Wir müssen deshalb nicht unsere Politik gegenüber Russland ändern. Jedenfalls bin ich froh, dass es gerade eine Debatte über ein weiteres Sanktionspaket gibt. Die Kommission hat in ihrem Vorschlag viele Punkte aufgegriffen, die von Litauen und anderen baltischen Staaten eingebracht worden sind. Ich hoffe, dass wir den Zusammenhalt weiter aufrechterhalten und uns auf ein neuntes Sanktionspaket einigen können.

STANDARD: Aus Ihrem autoritär regierten Nachbarland Belarus gab es voriges Jahr ebenfalls Druck auf Litauen. Flüchtlinge aus Nahost und Nordafrika wurden nach Minsk geflogen und haben versucht, nach Litauen und Polen und damit in die EU zu gelangen. Der Westen sprach damals vom Versuch, Migranten als Waffe einzusetzen. Wie ist die Situation jetzt?

Landsbergis: Wir haben innerhalb eines Jahres einen Zaun entlang der gesamten 700 Kilometer langen Grenze zu Belarus gebaut. Mit europäischer Hilfe konnten wir auch die Flüge aus dem Irak nach Minsk stoppen, das war ein wichtiger Gamechanger. Jetzt sehen wir immer noch Versuche, die Grenze illegal zu überqueren – vor allem von Leuten, die nicht direkt nach Belarus geflogen sind, sondern über Russland kommen und dann weiter Richtung Litauen fahren. Aber den Migrationsdruck an der Grenze, den wir vergangenes Jahr hatten, als Österreich uns unterstützt hat, gibt es jetzt nicht mehr. Diese Hilfe hat man in Litauen übrigens nicht vergessen. Österreich war eines der ersten Länder, die sie angeboten haben. Es war nicht nur politische Hilfe – Außenminister Schallenberg und der damalige Innenminister Nehammer kamen beide direkt an die Grenze –, sondern auch praktische Unterstützung, etwa von der Polizei: Eine Einheit der Cobra wurde geschickt und arbeitete Seite an Seite mit unseren Leuten vom Grenzschutz.

STANDARD: Viele belarussische Oppositionelle sind in Litauen im Exil. Auch Swetlana Tichanowskaja, die Anführerin der belarussischen Demokratiebewegung, lebt bei Ihnen. Spielt Litauen hier eine wichtige Rolle?

Landsbergis: Frau Tichanowskaja war eine der ersten, die sich in Vilnius niedergelassen haben. Inzwischen ist bei uns aber eine Art Ökosystem für die belarussische Opposition entstanden. Litauen ist für diese Leute ein guter Platz zum Arbeiten, zum Leben, zum Kommunizieren geworden. Sie bilden eine Community, die perfekt in die Atmosphäre von Vilnius als dynamische, freie Stadt im demokratischen Litauen passt. Darauf bin ich sehr stolz. (Gerald Schubert, 10.12.2022)