Wir brauchen ein Europa, das geopolitisch denkt und handelt. Ein Europa, das bereit ist, für den Erhalt von Freiheit und Demokratie Opfer zu bringen.

Foto: EPA / Stephanie Lecocq

Die Ukraine und mit ihr die Europäische Union sind durch den Krieg in eine problematische Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten geraten. Die Ukraine könnte sich ohne die enorme finanzielle und militärische Unterstützung aus den USA nicht gegen Russland verteidigen.

Europa fehlen zum Teil die nötigen Rüstungsgüter, um die Ukraine zu unterstützen. In Westeuropa fehlt uns vor allem das Bewusstsein über die Gefahr, die von Wladimir Putin für den ganzen Kontinent ausgeht. Geopolitisches Denken und Handeln wurden über Jahrzehnte wirtschaftlichen Interessen untergeordnet; nun sehen wir, auf welche Irrwege uns das geführt hat. Das Einstimmigkeitsprinzip, eine interne Fehlkonstruktion der EU, verhindert rasches Handeln.

Orbáns Spiel

Der Versuch Ungarns vergangene Woche, dringend benötigte EU-Finanzmittel für die Ukraine zu blockieren, konnte nur durch das Verhandlungsgeschick des tschechischen Ratsvorsitzes und nationalstaatliche Garantien überwunden werden. Ungarns Autokrat Viktor Orbán versucht dieses Spiel seit Jahren.

Der Ausgang des Kriegs in der Ukraine wird nicht in Brüssel entschieden, sondern an der Front und in Washington. Die EU steht im Abseits und hat wenig mitzureden. Wenn bei den amerikanischen Präsidentschaftswahlen 2024 ein republikanischer Hardliner an die Macht kommt, könnten wir ein blaues Wunder erleben, egal ob dieser Präsident dann Donald Trump oder Ron DeSantis heißt. Was passiert, wenn die Ukraine in der Auseinandersetzung mit Putin plötzlich ohne amerikanische Unterstützung dasteht?

Druck der Öffentlichkeit

Viele einflussreiche Republikaner halten wenig vom Engagement Joe Bidens in der Ukraine. Vor wenigen Tagen bezeichnete Tucker Carlson den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj als "Diktator, der hundert Milliarden an US-Steuergeldern verwendet hat, um in der Ukraine einen Einparteienpolizeistaat zu errichten". Carlson ist nicht irgendwer, er ist das mediale Sprachrohr der Rechtsnationalen und seine Show auf Fox News die reichweitenstärkste Sendung ihrer Art in Amerika. Signale wie diese sollten uns zu denken geben. Der Druck der Öffentlichkeit auf die Politik des Weißen Hauses ist nicht zu unterschätzen.

Zur Vorbereitung auf diesen Fall bleibt wenig Zeit. Wir brauchen ein Europa, das geopolitisch denkt und handelt. Ein Europa, das bereit ist, für den Erhalt von Freiheit und Demokratie Opfer zu bringen. Ein solches Europa muss in den Köpfen und Herzen seiner Menschen entstehen.

In den Ländern Osteuropas wurde das verstanden (außer Ungarn), entschieden wird die Frage, ob wir auch allein, ohne die USA, bestehen wollen, vor allem von der öffentlichen Meinung in Frankreich und in Deutschland.

Versteck fadenscheinige Neutralität

Österreich spielt hier leider keine Rolle. Wir sind ein provinzielles Land geworden, dessen Regierung sich hinter einer zunehmend fadenscheinigen Neutralität versteckt. Solange wir vom freien Binnenmarkt profitierten und vor allem in Osteuropa gutes Geld verdienten, hielten wir die europäische Fahne hoch. Jetzt, da es dringend nötig wäre, sich für die Ukraine stärker zu engagieren, drücken wir uns vor der Verantwortung. Auch bei uns gilt es mehr denn je, gegen politische Apathie und wirtschaftlichen Egoismus anzukämpfen. (Philippe Narval, 11.12.2022)