Jedes Jahr im Dezember geht es wieder los: In sozialen und klassischen Medien macht ein Foto die Runde, das fußballspielende deutsche und britische Soldaten am ersten Weihnachtstag, dem 25. Dezember 1914, zeigen soll. Eine Feuerpause mitten im Ersten Weltkrieg und eine Feel-good-Story, die man in weltpolitisch schwierigen Zeiten gerne liest, die den Glauben an das Gute im Menschen betonen soll und immer wieder aufs Neue viral geht: Deutsche auf der einen Seite, Briten auf der anderen. Noch vor wenigen Stunden versuchten sie einander zu töten, jetzt kicken sie einen Ball, weil sie eigentlich keinen Groll gegeneinander hegen und nur von den Obrigkeiten in den Krieg geschickt wurden. König Fußball hat es wieder einmal gerichtet.

Freundschaftskick in Griechenland

Das Problem: Es existieren keinerlei Fotos von besagtem Fußballspiel. Tatsächlich zeigt das aus falschen Gründen berühmte Bild (siehe oben) ein Fußballspiel zwischen britischen Soldaten und Offizieren, das ein Jahr später nahe der griechischen Stadt Thessaloniki stattfand. Gelegentlich verwenden Medien versehentlich auch moderne Nachstellungen von Reenactment-Künstlern, nicht wissend, dass es keine historischen Bilder sind.

Britische Soldaten beim Kick gegen britische Offiziere, 1915 nahe der griechischen Hafenstadt Thessaloniki.
Foto: picturedesk.com

Es gab den Weihnachtsfrieden von 1914. An einigen Stellen im französisch-belgischen Grenzgebiet schwiegen tatsächlich die Waffen für einige Stunden und teils Tage. Manchmal wurde auch gekickt. Niemand hat aber den Krieg unterbrochen, um Fußball zu spielen, wie es der europäische Verband (Uefa) in einem Video zum 100. Jahrestag des Weihnachtsfriedens andeutete. Viele Medien, Unternehmen und Verbände verklären den Kurzzeitfrieden zu einer fußballerischen Versöhnungsgeschichte, die so nicht stimmt. Entlang etlicher Frontkilometer wurde weitergekämpft, auch an jenem Tag starben dutzende junge Männer.

Der Beginn der Weihnachtsruhe wird gern überromantisiert, wie einige Historikerinnen und Historiker seit Jahrzehnten bemüht sind aufzuklären. Tatsächlich sollen auf beiden Seiten der teils nur 50 bis 100 Meter voneinander entfernten Schützengräben Weihnachtslieder angestimmt worden sein – bei den Deutschen etwa Stille Nacht, heilige Nacht und O du fröhliche. Dass daraufhin aber beide Seiten sofort aus den Gräben stiegen und ein Fußballspiel ausbrach, wie es die berühmte Werbung des Lebensmittelriesen Sainsbury’s nahelegt, ist reine Fantasie.

Foto: Katapult Verlag

Tatsächlich sollen am Heiligen Abend, als die Waffen allmählich verstummten, Lieder angestimmt und auf deutscher Seite kleine Weihnachtsbäume, die aus der Hauptstadt gesandt worden waren, aufgestellt und mit Kerzen geschmückt worden sein.

Vereinzelt wurden auch Soldaten auf die andere Seite des Niemandslandes eingeladen, auf ein Bier oder Härteres. Üblicherweise wurden den Soldaten dabei die Augen verbunden, damit die feindlichen Stellungen nicht ausgekundschaftet werden konnten. Wurde das vergessen, mussten die Soldaten gefangen genommen werden – auch am Heiligen Abend, auch wenn es ihnen peinlich war, aber bald ging es schließlich wieder um Leben und Tod.

Haarschnitt und Schweinskotelett

Viele Soldaten sollen aus Misstrauen oder Hass auf Feindbesuche gleich ganz auf einen Austausch verzichtet haben. Auf andere wurde bei der versuchten Annäherung geschossen. Es sei die "einzige Art von Waffenruhe, die sie verdienen", notierte ein britischer Militärangehöriger in seinem Tagebuch.

Der wahre weihnachtliche Waffenstillstand kam dann mit Anbruch des bitterkal- ten und nebligen 25. Dezember. Er wurde nicht von Befehlshabern angeordnet, sondern spontan durch die Handlungen der Soldaten besiegelt – viele Offiziere machten dennoch mit und sollen von der ungewohnten Stille überwältigt gewesen sein. Hände wurden geschüttelt, Smalltalk geführt, Haare geschnitten und kleine Geschenke ausgetauscht, auch ein Schwein wurde in der Todeszone zwischen den Gräben gegrillt.

Foto: Katapult Verlag

Wenngleich der weihnachtliche Geist eine Rolle gespielt haben soll, hatte das Schweigen der Waffen vor allem auch praktische Gründe: Die Gräben mussten dringend ausgebessert werden, was ohne feindlichen Beschuss ungleich leichter war. Andererseits wollten die Soldaten die vielen toten Kameraden aus den Wochen zuvor beerdigen – für viele der eigentliche Grund für den Weihnachtsfrieden.

Dass die Briten den Deutschen Kreuze für die Bestattung ihrer toten Kameraden angeboten haben sollen, rechneten ihnen die in dem Frontabschnitt stationierten Sachsen hoch an. Das gemeinsame Gebet soll wiederum beide Seiten ergriffen haben. Viele nutzten die Chance allerdings auch, um feindliche Stellungen auszuspähen – nicht selten fielen dabei Warnschüsse.

Auch Hitler kickte wohl nicht mit

Einige Anekdoten aus der Zeit erwähnen Fußball. Meist spielten sich aber nur ein paar britische Soldaten fußballähnliche Objekte untereinander zu, um sich in der klirrenden Kälte zu wärmen. Spiele zwischen den Feinden fanden übereinstimmenden Berichten von Zeitzeugen zufolge nur an wenigen Orten statt – in Saint-Yvon, wo die Uefa zum 100-jährigen Jubiläum des Weihnachtsfriedens ein Monument enthüllte, wohl eher nicht.

Wenige Kilometer nördlich davon, entlang der Verbindungsstraße zwischen Mesen und Wulvergem, südlich von Ypern, hingegen schon. Ohne Schiedsrichter oder Tore habe ein "Herumgekicke" von ein paar Hundert Mann stattgefunden, berichteten Augenzeugen später. Die Deutschen hätten den Ball zur Verfügung gestellt.

An einem weiteren berühmten Spiel, einem angeblichen 3:2-Sieg der "Fritzen" gegen die "Tommys", gibt es schon allein deshalb erhebliche Zweifel, weil der Gegner, das in einem Brief beschriebene deutsche Regiment, eigentlich deutlich südlicher stationiert war. Fraglich ist auch, wie der damals noch einfache Meldegänger Adolf Hitler zum Weihnachtsfrieden stand. Sein nahe Ypern stationiertes Regiment nahm definitiv am Weihnachtsfrieden teil, wegen seiner Aufgabe war Hitler aber kaum an der Front. Ein Kamerad erzählte Jahrzehnte später, dass Hitler den Waffenstillstand wenig überraschend abgelehnt hatte. Auch an dieser Story gibt es jedoch berechtigte Zweifel.

Royale Erinnerungskultur

Dafür, dass sämtliche Erkenntnisse über die Fußballspiele während des Weihnachtsfriedens eher vage sind und diese letzten Endes wohl viel mehr nur ein Nebeneffekt als der eigentliche Grund für den Weihnachtsfrieden waren, ist die Erinnerungskultur bei den alten Kriegsgegnern recht ausgeprägt. Anlässlich des 100. Jahrestages trafen deutsche und britische Soldaten an mehreren Orten in Fußballspielen aufeinander. Im offiziellen Jahrhundertmatch im britischen Aldershot siegten die Hausherren mit 1:0, im afghanischen Kabul siegten die Briten gar mit 3:0.

Auf der gesamten britischen Insel posierten Kontrahenten an jenem Wochenende für gemeinsame Mannschaftsfotos. Auch die Royals schalteten sich ein: "Fußball hatte die Kraft, Menschen zusammenzubringen und Barrieren einzureißen", sagte der britische Prinz und Thronfolger William bei der Enthüllung einer weiteren Gedenkskulptur. "Es ist wichtig, dass wir die Geschichte des Weihnachtsfriedens auch noch hundert Jahre später am Leben erhalten", so Prinz William damals.

Und warum müssen gute Geschichten auch immer zu Tode recherchiert werden? (Leseprobe: Fabian Sommavilla, 12.12.2022)