Am Ende stöhnt Ingrid Noll leise. "Materialermüdung", sagt sie. Und meint Augen, Ohren, Knochen – funktioniert alles nicht mehr wie früher. Die Konzentration hat sie noch. Sie redet mit scharfer Zunge und wachem Verstand. 87 Jahre alt ist sie, seit vergangenem Jahr verwitwet und eine von Deutschlands erfolgreichsten wie produktivsten Schriftstellerinnen. Vor kurzem erschien ihr neuer Roman Tea Time, der 17. Krimi, vermutlich wieder ein Bestseller wie die Bücher davor.

Vor kurzem erschien Ingrid Nolls 17. Thriller "Tea Time" im Diogenes-Verlag.
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STANDARD: Frau Noll, in Ihren Büchern verbünden sich Frauen oft gegen Männer. Im neuen Roman schließen sich sechs Freundinnen zu einem "Club der Spinnerinnen" zusammen und prahlen mit ihren Macken. Welche haben Sie?

Noll: In jungen Jahren musste ich schnell heulen. Das ging anderen Leuten oft auf den Wecker.

STANDARD: Sie waren einfach emotional.

Noll: Das ist freundlich von Ihnen, aber ich glaube, ich habe meine Umgebung genervt damit. Mein Vater war ganz verzweifelt. Warum weinst du? Er dachte: Um Gottes willen, sie ist schwanger und will es mir nicht sagen. Aus purem Weltschmerz musste ich heulen, oder weil die Hormone in dem Alter regelmäßig auf- und abgehen. Ich kann den Grund nicht direkt definieren. Die Ausbrüche haben sich im Laufe der Jahre egalisiert, denn da musste ich ja tough werden.

STANDARD: Der Literaturbetrieb kann hart sein. In den 90er-Jahren schrieb ein Kritiker über Ihre Bücher: Aus jeder Zeile müffelt es nach Klimakterium, also Wechseljahren.

Noll: Dabei war ich damals schon längst drüber hinaus! Außerdem müffelt das Klimakterium überhaupt nicht. Die Metapher stimmt nicht mal. Das war sehr frauenfeindlich. Es handelte sich zum Glück um eine ganz unwichtige Zeitung. Nur die Schmähung vergisst man nie.

STANDARD: Damals konnte man noch sexistisch urteilen?

Noll: Wir haben Freiheit in der Meinung, in der Rede und im Schreiben. Die Redaktion hätte vielleicht sagen können: Kannst du das nicht ein bisschen anders ausdrücken? Man darf ruhig ein Buch verreißen. Ich weiß ja selber, ich gehöre nicht ins Feuilleton, zu den Nobelpreisträgern, zu Grass. Ich schreibe Unterhaltung, die will ich nach meinem Können gut machen. Da steckt viel Selbstermächtigung von Frauen drin. Weil gute Freundinnen, meine zwei Schwestern, meine Tochter, meine Enkelin mir ihr bitteres Herzeleid geklagt haben. Manchmal tun das sogar wildfremde Frauen im Zug. Auf solchen Fahrten entsteht die Situation einer Beichte. Sie weiß nicht, wer ich bin, und behält ihren Namen für sich.

STANDARD: An welche Geschichte denken Sie?

Noll: An eine Frau, die mir auf einer langen Zugreise erzählte, wie ihr Mann sie gequält hat. Er hat ihren Kopf in einen Eimer mit Wasser gesteckt. Wie die Amis das machen, dieses Waterboarding. Ich habe ihr natürlich geraten, sie soll sich trennen. Aber ich weiß nicht, was sie letztlich getan hat.

STANDARD: Gewalt in der Ehe spielt eine kleine Rolle im neuen Buch. Früher hat man darüber öffentlich geschwiegen.

Noll: Einmal habe ich in Weinheim, da war ich schon 50, auf der Straße einen Mann gesehen, der auf seine Frau eingedroschen hat. Ich bin ein Angsthase, aber trotzdem hingegangen und habe gerufen: Lassen Sie sofort Ihre Frau in Ruhe. Der Kerl zückte seine Hand: Du willst wohl auch eine haben? Ich bin etwas zurückgewichen, wagte nicht, mich in ein Handgemenge einzulassen. Immerhin hat er von ihr abgelassen.

STANDARD: Für die Organisation Terre des Femmes engagieren Sie sich für Frauenrechte. Sehen Sie sich als Feministin?

Noll: Ja ... als besonnene.

STANDARD: Sie zögern mit der Antwort.

Noll: Ich mag nicht, wenn es so schrill wird. Als in den 70er-Jahren die ersten Frauenbuchhandlungen aufmachten, in die kein Mann einen Schritt hineinsetzen durfte, fand ich das albern. Männer und Frauen gehören zusammen in diese Welt und müssen sich vertragen. Solche Ausgrenzungen halte ich für hysterisch.

STANDARD: Vorsicht! Mit dieser Diagnose wurden Frauen jahrzehntelang abgekanzelt.

Noll: Stimmt, ein gemeines Wort. Hat Freud salonfähig gemacht. Jede Person, die eine Gebärmutter hatte, stand bei ihm per se unter dem Verdacht, hysterisch zu sein. Sagte man mir auch, als ich als Mädchen so viel heulte. Ein hysterisches Frauenzimmer, das galt als schlimmes Schimpfwort.

STANDARD: Verlage und Redaktionen diskutieren über geschlechtergerechte Sprache. Wie stehen Sie dazu?

Noll: Es geht mir manchmal auf den Wecker, wenn jemand unentwegt Schüler und Schülerinnen sagt. Das ist so umständlich. Aber ich sehe ein, dass sich sprachlich etwas ändern muss. Am besten sollten wir im Deutschen die Artikel abschaffen, so wie auf Englisch. Dann hätte man es gerecht.

STANDARD: Wenn Sie jung wären, würden Sie gendern?

Noll: Ich kann es nicht hundertprozentig sagen, doch wahrscheinlich wäre ich dabei.

STANDARD: Kürzlich erklärte die Schriftstellerin Helene Hegemann, dass sie in ihren Büchern nicht gendert, es aber tun würde, wenn sie ein Mann wäre.

Noll: Wie kompliziert! Interessanter Gedanke, wäre ich nicht draufgekommen. Aber ein bisschen komisch.

Ingrid Noll: "Tea Time". Diogenes-Verlag, 320 Seiten, 25 Euro.
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STANDARD: Wie haben Sie damals dasselbe Alter erlebt, das Hegemann und Ihre Enkelin teilen?

Noll: Wir hatten eine ganz andere Sexualmoral. Erstens gab es noch keine Pille, die Eltern hatten große Angst, das Kind könnte viel zu früh schwanger sein und vom falschen Kerl. Seit man anständig verhüten kann, hat sich das grundlegend geändert. Außerdem existierte noch der Kuppler-Paragraf, als ich in den 50er-Jahren meinen Mann kennenlernte. Ich war 17, eine Schülerin in Bad Godesberg, und mein Mann begann gerade sein Medizinstudium in Bonn. Die Eltern durften ihn nicht übernachten lassen, sie hätten damit der Unzucht Vorschub geleistet. Ab zehn Uhr fing die Sünde an, hieß es damals. Falls sie böse Nachbarn hatten, mussten sie den Freund der Tochter pünktlich nach Hause schicken. Wobei mein Mann heimlich über den Balkon wieder reinkam.

STANDARD: Wenn Sie Ihren Enkeln heute davon erzählen, was sagen die?

Noll: Ihr spinnt! Heute wachsen die Kinder toleranter, offener auf. Zwei Enkel von mir besuchen ein Gymnasium, auf dem sie Schulprojekte gegen Rassismus haben. Das finde ich wichtig. Manchmal bin ich selber rassistisch, ohne es zu merken. Weil Empfindlichkeiten bestehen, die ich nicht berücksichtige. Wenn ich nur an Taxifahrer denke und die berühmte Frage: Aus welchem Land kommen Sie denn? Einige fühlen sich dadurch tief beleidigt. Andere erzählen bereitwillig aus ihrem Leben. In Berlin hatte ich mal einen türkischen Fahrer, der mir sagte: Für mich ist das Wichtigste, dass meine Kinder in die Waldorfschule gehen. Da dachte ich, Mensch, was für Klischees auch ich im Kopf habe. Die Welt ist bunter, als man denkt.

STANDARD: Sie wuchsen die ersten Lebensjahre in China auf. Erst mit 14 Jahren kamen Sie 1949 nach Deutschland. Wie lief die Erziehung bei Ihnen ab?

Noll: Mein Bruder ging ab 1940 in Schanghai auf eine richtige Schule und wohnte dort bei einer deutschen Witwe. Wir Mädchen wurden in Nanking von den Eltern zu Hause unterrichtet. Sie hatten Schulbücher besorgt, die wir alle lasen, reihum am Tisch. Meine jüngste Schwester kannte die Fibel auswendig, bevor sie lesen konnte – so oft hatte sie es bereits gehört. Um zwölf Uhr war der Unterricht vorbei, es gab keine Hausaufgaben, keine Noten, keine Versetzung. Völlig anders als in einer richtigen Schule.

STANDARD: Im Nachhinein betrachtet eine gute Vorbereitung?

Noll: Ich lebte wenigstens ohne Angst und Lernstress. Allerdings hatten wir von vielen Dingen keine Ahnung. Das merkte ich, als wir nach Deutschland zurückkehrten. Ich hatte noch nie im Leben Turnen gehabt, solche Folterinstrumente nie zuvor gesehen: Barren, Reck. Nicht hilfreich, wenn die Lehrerin bemerkte: Da hängt sie wieder wie ein Mehlsack.

STANDARD: In der Bonner Klosterschule haben Sie zunächst rebelliert, weil Sie keine Hosen tragen durften wie in China.

Noll: Ich wurde nach Hause geschickt. Zieh dich anständig an!, sagten die Nonnen. Eines Tages kam eine neue Schülerin aus Berlin mit Hosen zum ersten Schultag. Auch sie musste heim. Ihre Eltern gaben ihr am nächsten Tag ein ärztliches Attest mit: Sie hätte eine Nierenentzündung und müsste lange Hosen tragen. Die Nonnen meinten, wenn der Arzt das sagt, kannst du sie gern tragen, aber einen Rock drüber. Das fanden wir Mädchen damals absolut beschissen. Also trug sie später doch ein Kleid.

STANDARD: Kannten Sie als Mädchen das Gefühl, von Männern nicht ernst genommen zu werden?

Noll: Ja. Mein Vater fragte mich, was ich nach dem Abitur werden will. Ich könnte Medizin studieren, antwortete ich. Er nickte: "Könntest du, du bist nicht blöd, aber wenn man wirklich krank ist, geht man nicht zu einer Frau." Leider hatte er zur damaligen Zeit recht, denn den wenigen Ärztinnen vertraute man nicht. Nur fand ich das in dem Moment sehr demütigend.

STANDARD: Sie mussten lernen, Ihr Licht unter den Scheffel zu stellen.

Noll: Das habe ich nicht so empfunden. Aber es stimmt schon. Als Mädchen war man nicht so selbstbewusst zu glauben, die Welt stehe einem offen. Das ging allen Mitschülerinnen so. Als wir Jahre später ein Klassentreffen hatten, gab es nur zwei Extreme: Die einen hatten wirklich Karriere gemacht, jedoch weder Mann noch Familie, die anderen haben ihren Beruf aufgegeben, als sie heirateten, und bekamen Kinder. Nicht nur eins oder zwei, sondern gleich vier. Dann zeigte die eine Hälfte die Fotos von ihren reizenden Töchtern oder Söhnen, und die andere erzählte von Vorträgen in New York – und jede Fraktion beneidete die andere.

STANDARD: Danach haben Sie Germanistik studiert und abgebrochen. Ihre anderen Geschwister haben die Universität abgeschlossen. Sie haben bedauert, dass Ihnen das nicht vergönnt war, weil Sie sonst bestimmt eine andere Stellung in der Familie eingenommen hätten. Haben Sie sich weniger wert gefühlt?

Noll: Ich hatte Minderwertigkeitskomplexe. Obwohl ich nicht glaube, dass meine Geschwister auf mich herabgeschaut haben. Für sie war es sicherlich praktisch. Sie haben ihre Kinder bei mir abgeladen, wenn sie Reisen machen mussten. Später zog meine Mutter bei uns ein, die bis zu ihrem Tod bei mir lebte. Ich kann nicht sagen, dass ich nicht gearbeitet habe. Nur nannte man das nicht so! Ich habe bei meinem Mann in der Praxis halbtags geholfen, alle Dokumente getippt und danach den Haushalt geschmissen.

STANDARD: Aber es wurde nicht ernst genommen?

Noll: Nein. Es ist so ähnlich, wie eine Bauersfrau nie gesagt hätte, dass sie berufstätig sei, obwohl sie den ganzen Tag im Stall oder auf dem Feld mitarbeitet. Ich hatte wenig Freizeit und konnte meine Füße nicht nach 16 Uhr hochlegen.

STANDARD: Als die Kinder aus dem Haus zogen, begannen Sie mit 55 Jahren Ihr erstes Buch zu schreiben. Der langgehegte Traum wurde wahr: Sie bekamen Ihr eigenes Zimmer.

Noll: Ja, das war toll. Bereits als kleines Mädchen war das mein großer Wunsch. Wir Schwestern schliefen zusammen in einem Zimmer, teilten uns eine Kommode. Da war von allen die Wäsche drin, es wurde nicht sortiert, das ist meins, das ist deins. Und nun saß ich am eigenen Schreibtisch. Ein eigenes Zimmer bedeutet für eine Frau, schöpferisch und geistig unabhängig arbeiten zu können. Es ist wahrscheinlich noch so, dass es eher einen Hobbyraum für den Hausherrn gibt als einen Schreibplatz für die Hausfrau.

STANDARD: Wenn Sie die jungen Frauen von heute beobachten, worum beneiden Sie diese?

Noll: Um ihr Selbstbewusstsein und ihre Selbstständigkeit.

STANDARD: Sie wirken nicht schüchtern.

Noll: Nicht mehr. Ich hatte lange Schwierigkeiten, öffentlich aufzutreten. Vor meiner allerersten Talkshow hatte ich solche Angst, dass ich ohnmächtig am Boden liegen würde und vor laufender Kamera wiederbelebt werden müsste. Vor der Sendung bin ich zu Elke Heidenreich, die damals die Show leitete, und habe ihr gesagt, dass mir nichts Gescheites einfallen und ich wie ein Depp dastehen würde. Sie sagte mir: Wenn man einmal was gesagt hat, läuft es – man muss nur gleich am Anfang den Mund aufmachen. Sie war so nett, die erste Frage gleich an mich zu richten. Sie hatte völlig recht. Als ich verstand, dass mir niemand etwas Böses will, entspannte ich mich.

STANDARD: Woher kam diese Furcht, vor anderen Leuten zu reden?

Noll: Bei mir in der Schule hat man keine öffentlichen Referate gehalten, das haben wir Mädchen nie gelernt. Später saß ich zwar im Elternbeirat, doch wenn viele Menschen zusammensaßen, wer hat sich zuerst gemeldet und wie ein Klugscheißer geredet? Es waren die Männer. Oft habe ich gedacht, das wollte ich eigentlich sagen, aber jetzt ist der schon dran, da halte ich lieber den Mund.

STANDARD: Hat Sie das gestört?

Noll: Ich habe mich über mich selbst geärgert, weil ich so feige war. Mich mit lauter Stimme zu Wort melden, das konnte ich nicht gut. Inzwischen weiß ich, es ist eine Sache der Übung und Erfahrung.

STANDARD: Haben Sie noch Lampenfieber?

Noll: Das wäre zu viel gesagt. Aber wenn ich eine größere Lesung habe, kann ich davor nicht tafeln. Buchhändler haben mir erzählt, dass Rolf Hochhuth vor Auftritten immer eine Schweinshaxe gegessen habe. Dafür wäre ich zu nervös. (RONDO, Ulf Lippitz, 22.12.2022)