"Die Rechtfertigung der österreichischen Blockade der Schengen-Beitritte von Bulgarien und Rumänien durch Bundeskanzler und ÖVP-Obmann Karl Nehammer in der ORF-Pressestunde klang fast wie eine sonntägliche Feierstunde von Fake-News", sagte mir ein ehemaliger bürgerlicher Würdenträger. Sein Pochen auf die Verteidigung nationalstaatlicher Interessen gegenüber einer verfehlten Asylpolitik der EU hat in der Tat nichts mit der Staatsräson zu tun. Sie besteht nämlich in der flexiblen Verfolgung des nationalen Interesses auf der Grundlage der realistischen Einschätzung der Umstände.

Es gab in der Nachkriegsgeschichte Österreichs kaum eine außenpolitische Aktion, die international und national in den Medien und Fachkreisen so einhellig als heuchlerisch und sinnlos verurteilt wurde wie dieser Schnellschuss von Nehammer und seinem hilflosen Innenminister.

Der Schnellschuss von Nehammer und seinem hilflosen Innenminister wird international kritisiert.
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Vom Bundespräsidenten Alexander Van der Bellen und dem Ersten Vizepräsidenten des Europäischen Parlaments Othmar Karas bis zur deutschen Außenministerin Annalena Baerbock und zum italienischen Innenminister Matteo Piantedosi wurde die Verknüpfung der Schengen-Erweiterung mit den hohen Asylzahlen in Österreich als "unverständlich" und "ungerechtfertigt" kritisiert.

Noch am 18. Oktober hatten auch die ÖVP-Europaabgeordneten so wie eine erdrückende Mehrheit (547 gegen 49 Stimmen) im EU-Parlament für den Schengen-Beitritt Rumäniens und Bulgariens, am 10. November auch für den Kroatiens gestimmt.

Steigende Asylzahlen

Zu Recht hebt Karas, der erfahrenste Europapolitiker der ÖVP, in mehreren Stellungnahmen hervor, die steigenden Asylzahlen in Österreich seien die Folgen in erster Linie der Politik Ungarns: "Orbán winkt die Asylwerber weiter nach Österreich, statt sie ordnungsgemäß zu registrieren, und schadet uns damit massiv. Daher kamen in Österreich auf eine Million Einwohner im August rund 1500 Asylanträge, in Ungarn dagegen nur ein einziger."

Trotzdem gehe der Kanzler zugleich "auf Kuschelkurs mit Populisten und Blendern" in Budapest und Belgrad, und Österreich verliere auf europäischer Bühne jegliche Glaubwürdigkeit, so die Neos-Europaabgeordnete Claudia Gamon. Die wirtschaftlichen Folgen dieser Ohrfeige werden die in beiden Ländern massiv engagierten österreichischen Unternehmer bald spüren.

Darüber hinaus dürfte die angebliche Spekulation mit Stimmengewinnen für die in den Umfragen nur noch auf Platz drei liegende ÖVP bei den drei Landtagswahlen 2023 kaum aufgehen. FPÖ-Chef Herbert Kickl ist nämlich nicht nur in der Rhetorik in einer anderen Klasse als der Kanzler, sondern auch überzeugender bei der Ausnützung der Macht der Angst in der Politik.

Die plakative Darstellung der bereits 1981 von dem großen Denker Friedrich Heer (1916–1983) gebrandmarkten Sünden der "uneigennützigen Gemeinheit" und "gepflegten Charakterlosigkeit" gegenüber den beiden EU-Partnerstaaten entlarvt auch die Heuchelei der sogenannten Westbalkanpolitik und verfälscht das Bild der EU: Wenn etwas gelingt, ist das eine nationale Tat, wenn es schiefgeht, ist die EU schuld. Dass die SPÖ-Spitze dieses Trauerspiel mitmacht, ist moralisch bedenklich und politisch kontraproduktiv. (Paul Lendvai, 12.12.2022)