Wettcafés sind nicht dafür bekannt, Schauplätze weitsichtiger Entscheidungen zu sein. Doch genau eine solche wurde am Standort der Admiral Sportsbar im Wiener Wurstelprater, Ordnungsnummer 93, vor fast 100 Jahren gefällt. An dieser Adresse drehten sich ab 1906 die schmucken Boote des damals dort befindlichen Rudersportkarussells auch im Winter im Kreis. Möglich geworden war das auf Initiative von Carl Schaaf: Der Spross einer ab 1866 ansässigen Schaustellerdynastie hatte in dem heute rund 250 Jahre alten Vergnügungspark die Winteröffnung durchgesetzt.

Auch wenn es (vorerst) nur bei einer Episode blieb, nahm Schaaf eine Entwicklung vorweg, die sich heute mehr und mehr durchsetzt: der Ganzjahresbetrieb. Geöffnet haben viele Attraktionen grundsätzlich nicht nur in den warmen Monaten – auch wenn eher eine gegenteilige Annahme verbreitet ist. Das liegt wohl daran, dass die Prater-Ikone Schweizerhaus den Beginn der Saison am 15. März und deren Ende am 31. Oktober groß feiert. Dabei dürfte untergehen, dass trotz der Stelzenpause weiterhin Ringelspiel, Geisterbahn und Autodrom gefahren werden kann.

Von November bis Mitte März hat zwar die Prater-Ikone Schweizerhaus geschlossen. Bei Ringelspiel, Geisterbahn und Autodrom sind Gäste in dieser Zeit weiterhin willkommen.
Foto: Regine Hendrich

Weil die Betriebe ihre Öffnungszeiten im Winter flexibel handhaben, gibt es zwar keine Zahlen, wie viele Fahrgeschäfte in dieser Zeit genutzt werden können. Als Faustregel gilt: Je besser das Wetter, desto mehr sind geöffnet. Die Nebensaison ist ein relevanter Faktor geworden. Und der Motor dahinter sind wie bereits vor 100 Jahren die Praterfamilien.

Ein Jugendtreffen als Initialzündung

Stefan Sittler-Koidl erinnert sich noch genau an das ausschlaggebende Ereignis: das Europäische Jugendtreffen der Taizé-Gemeinschaft zum Jahreswechsel 1992/1993 in Wien. Der ökumenische Männerorden brachte damals 70.000 Mädchen und Burschen in der Hauptstadt zusammen. Diese Jugendlichen galt es zu unterhalten, wie Sittler-Koidls Eltern, Angehörige der alteingesessenen Schaustellerfamilie Sittler, erkannten. "Sperr ma auf", hätten sie spontan entschieden, sagt Sittler-Koidl. "Das war die Initialzündung für den Winterbetrieb in der Neuzeit."

Er und seine Gattin Karin Koidl, die gemeinsam zwölf Fahrgeschäfte und eine Bar betreiben, führen die Winteröffnung fort. Blumenrad, Prater-Karussell, Break Dance und andere ihrer Attraktionen sind aktuell unter der Woche ab 14 Uhr geöffnet, an Wochenenden ab 11 Uhr – außer bei absolutem Schlechtwetter. Mit den Achterbahnen ist es komplizierter: Sie sind ab einer gewissen Temperatur nicht mehr für den Betrieb zugelassen. "Das liegt an den Schmiermitteln", sagt Koidl. "Die könnten wir aber umrüsten. Sollte das gefragt sein, werden wir das auch tun."

Das Blumenrad dreht unbekümmert seine Runden. In den Prater gebracht hat es der Großvater von Unternehmerin Karin Koidl.
Foto: Regine Hendrich

Das Wort Nebensaison mag das Paar nicht so gerne. Erstens aus kommunikativen Gründen – Stichwort Schweizerhaus. Im Prater sei "immer etwas los", zitiert Sittler-Koidl, noch ganz in seiner früheren Rolle als Chef des Praterverbands, den Werbeslogan. Zweitens werde mittlerweile in den kalten Monaten ein beträchtlicher Teil des Jahresumsatzes erzielt, betont er: Im Sittler-Koidl-Betrieb sind es 30 Prozent.

"Offensichtlich will man auch im Winter etwas erleben", sagt Koidl, "das zeigen ja die Weihnachtsmärkte." Die 47-Jährige stammt ebenfalls aus einer traditionsreichen Schaustellerfamilie. Ihren Mann lernte sie vor 18 Jahren kennen – natürlich im Prater.

Im Prater zu Hause

Wie die Sittlers und Koidls sind viele andere Praterfamilien durch Ehen verbunden. "Wir sind wie ein Dorf. Innerhalb des Dorfs sucht man sich wen zum Heiraten", heißt es im Prater. Die Zahl der Praterbetriebe wird heute auf rund 80 geschätzt. Ihre Wurzeln haben sie in wenigen Familien, einige davon wohnen sogar noch auf dem Gelände. So auch die Sittler-Koidls: In ihrem Haus kam sogar ihr Nachwuchs zur Welt – gleich beim Blumenrad.

So manche Fahrgeschäfte werden in der Nebensaison auch eingewintert.
Foto: Regine Hendrich

Diese Attraktion brachte 1993 Koidls Großvater in den Prater. Als Inspiration für den Namen diente der Umstand, dass es zuvor auf einer Blumenausstellung gastiert hatte. Und ein Riesenrad gab es ja bereits.

Gamechanger Gastro-Waggon

Bei diesem nahm der Winterbetrieb Anfang der 2000er-Jahre seinen Ausgang. "Da sind die Gastro-Wagons gekommen – das hat neue Geschäftszweige eröffnet", sagt Seniorchefin Dorothea Lamac. Das heißt: Plötzlich gab es die Option, während der Fahrt zu frühstücken oder zu dinieren – insbesondere im Winter ein Anreiz für einen Besuch. Sie ist 80-prozentige Eigentümerin des Wahrzeichens. Je zehn Prozent gehören ihren Töchtern Tessa und Nora, Letztere führt federführend die Geschäfte – "eine Frauenwirtschaft".

Nora und Dorothea Lamac, zwei Drittel der "Frauenwirtschaft" hinter dem Riesenrad: Dieses lockt im Winter mit beheizten Waggons.
Foto: Regine Hendrich

Eigentlich sind die Lamacs eine Rechtsanwaltsfamilie. In ihren Besitz kam das Riesenrad nach dem Zweiten Weltkrieg: Noras Urgroßvater Karl kaufte es den Erbinnen des jüdischen Vorbesitzers ab. Die 65 Meter hohe 125 Jahre alte Konstruktion trotzt bis heute fast jedem Wetter: "Fahren können wir auch bei minus 20 Grad. Nur der Wind darf an der Achse nicht stärker als 80 km/h sein", erklärt die 30-jährige Nora Lamac. Ferien hat das Riesenrad nur zwei Wochen: Im Jänner wird es für Wartungen abgeschaltet. Dabei werden etwa Achs- und Radialseile oder Kabel getauscht.

Angenehm für die Gäste: Die 15 weihnachtlich beleuchteten Wagons sind beheizt, bei der Fahrt kann man sich also aufwärmen. Außer Betrieb ist im Winter die heuer eröffnete Plattform 9 – eine am Riesenrad montierte Glasplatte, auf der die 15-minütige Fahrt stehend absolviert wird.

Mit etwas Glück gibt es aber die Chance auf eine andere Besonderheit: "Im Winter kann man mit einem regulären Ticket einen Privatwagon ergattern", erzählt Dorothea Lamac. "Wenn wenig los ist, ist das möglich. Man muss nur an der Kassa fragen."

Ein Markt als Frequenzbringer

2008 war das Gegenmittel gefunden. Um die anfänglich maue Nebensaison zu beleben, wurden auf dem Riesenradplatz sechs Gastrohütten aufgestellt – der Wintermarkt war geboren. Er findet seither von Anfang November bis um den Dreikönigstag täglich statt – diesmal bis 8. Jänner. Heute besteht er aus 26 Standln: Verkauft werden Punsch, Buchteln oder Maroni, erzählt Projektleiterin Natascha Kornberger.

Dazu kam eine Bühne, auf der heimische Künstlerinnen und Künstler Gratiskonzerte spielen. "Last Christmas hört man aber erst ab Mitte Dezember. Wir sind ja kein Weihnachts-, sondern ein Wintermarkt", sagt Kornberger. Weiters auf dem Programm: Artistenshows und Kasperltheater in einem Zirkuszelt auf der Kaiserwiese.

Als Faustregel gilt im Winter: Je besser das Wetter, desto mehr Fahrgeschäfte haben offen.
Foto: Regine Hendrich

Das erklärte Ziel sei es, im Winter Publikum in den Prater zu bringen. Die Kalkulation: Wer sich von Kulinarik und Musik hat anlocken lassen, steigt womöglich auch in ein Fahrgeschäft. Das scheint aufzugehen: 300.000 Gäste kamen im Jahr 2019 zum Wintermarkt – das bisher beste Ergebnis. 2019 war mit 6,6 Millionen Besuchern auch das bisher beste Jahr für den Prater insgesamt. Die städtische Prater Wien GmbH rechnet damit, diesen Wert heuer zu übertreffen.

Winterpremiere im Böhmischen Prater

Ähnliches wie den Wintermarkt versucht heuer das weniger bekannte Pendant des Wurstelpraters: Im Böhmischen Prater können beim Winterzauber noch dieses Wochenende an zehn Ständen Krippen, Schnaps und "leiwande Suppen" erstanden werden, wie Obmann Manfred Fritz formuliert. Dazu werden Konzerte gespielt, die Fahrgeschäfte unterbrechen die Winterpause. Die gibt es am Laaer Berg von November bis März tatsächlich. Fritz sieht das Event als Test für einen Ganzjahresbetrieb: "Gewisse Ruhephasen für Wartungen wird man aber immer brauchen."

Anna Kleindienst-Jilly lässt ihre Liliputbahn heuer zum ersten Mal im Winter durch den Prater kurven. Für sie ist der lärmende Minizug eine Ruheoase.
Foto: Regine Hendrich

Der Wintermarkt im Wurstelprater soll in den nächsten Jahren noch erweitert werden – in Richtung Liliputbahn. Diese ist im heurigen Winter erstmals in Betrieb: An Wintermarkt-Wochenenden tuckert sie auf ihrer vier Kilometer langen Strecke dahin. Co-Geschäftsführerin Anna Kleindienst-Jilly hat zwar auch rasantere Attraktionen wie die Super-Achter-Bahn und das Sturmboot im Portfolio. Doch der Minizug ist ihr Favorit.

Für die 32-jährige Unternehmerin, die am Stadtrand auch einen Reitstall leitet, ist die lärmende Bahn eine Ruheoase: "Fahren heißt, 20 Minuten nicht erreichbar zu sein. Es ist einfach zu laut zum Telefonieren."

Verwandlung in "angenehmen Ort"

Die 1928 eröffnete Liliputbahn schaffte nach dem Zweiten Weltkrieg Kleindienst-Jillys Großvater an. Der Textilhändler bekam die Bahnanteile eines Kunden abgetreten, der bei ihm Schulden hatte – und kaufte die Attraktion schließlich ganz. Die Bahn wird kontinuierlich modernisiert: Gearbeitet wird etwa an E- und Wasserstoff-Loks, die Dampfloks werden neuerdings mit Olivenkernen befeuert.

Das Image des Praters hat sich in den vergangenen Jahren stark verändert. Wenn sich Kleindienst-Jilly früher an Wintertagen auf den Heimweg zum Elternhaus im Prater machte, sei sie bemitleidet worden. "Alle haben gesagt: 'Was, du musst durch den dunklen Prater nach Hause gehen?' Er galt als verlassener Ort. Jetzt ist er deutlich belebter."

Prater als Faktor für Städtetourismus

Viola Pondorfer gibt es zu: Im Sommer ist ihr der Prater lieber. "Aber ich bin befangen. Ich bin einfach ein Sommermensch." Was sie auch ist: jene Schaustellerin mit dem frischesten Blick auf das Geschäft. Dieses kennt sie bisher vor allem vom Jobben in den Fahrgeschäftkassen ihres Vaters Walter – etwa in jener des berüchtigten Praterturms.

Neuling Viola Pondorfer möchte lernen, Praterturm und Co selbst zu steuern. Für die Belebung der Nebensaison hat sie schon einige Ideen.
Foto: Regine Hendrich

Dieser galt bis 2013 als höchstes Kettenkarussell der Welt. Entwickelt wurde er von Walter selbst, erbaut 2010. Seit diesem Jahr sind die Pondorfer’schen Attraktionen "mit Fokus auf dem Wochenende" auch im Winter geöffnet. Die Nebensaison spüle insbesondere Schulklassen und Messegäste herein, sagt Pondorfer. Sonst sei das Publikum bunt wie in der Hauptsaison.

Ihre Familie dockte erst vor 30 Jahren im Prater an: "Wir sind die Jüngsten hier, aber das ist kein Nachteil. Wir wurden gut aufgenommen." Mit Jahreswechsel wird die auf Tourismusrecht spezialisierte Pondorfer in das Familienunternehmen einsteigen – als zweites Standbein. Die Bemühungen, das Wintergeschäft anzukurbeln, befürwortet sie.

"Veranstaltungen beleben den Prater. Die Verbände und die Stadt leisten hier sensationelle Arbeit." Sie werde sich künftig gerne dabei einbringen, sagt die 32-Jährige. Ihre Ideen wolle sie aber noch nicht verraten. "Für den Ganzjahresbetrieb spricht viel. Der Prater ist ein Faktor im Städtetourismus, ein offener Prater wirkt sich auf die Wertschöpfung aus."

Jubiläum der Weltausstellung

Überhaupt erst zur Praterunternehmerin gemacht hat der Winter Katja Kolnhofer. "Meine Tochter war im Winter oft krank. Deshalb habe ich einen Job gebraucht, der damit vereinbar ist", erzählt die Urenkelin von Philipp Kolnhofer, erster Präsident des Praterverbands nach dem Zweiten Weltkrieg. 2009 übernahm die gelernte Sekretärin das Autodrom und eine Schießbude ihrer Familie, 2016 kamen Extasy und das Geisterschloss mit dem Riesengorilla am Eingang dazu.

Katja Kolnhofer lässt sich von ihrem eigenen Leben zu Figuren im traditionsreichen Geisterschloss inspirieren.
Foto: Regine Hendrich

Die rund 20 Figuren im Schloss sind Unikate. Ideengeberin ist auch Kolnhofer selbst. Etwa für den Pig-Human-Hybriden. "Der ist aus einer Phase, in der ich nicht gut auf Männer zu sprechen war." Bei allem Grusel-Anspruch sei es aber wichtig, "nicht zu krass" zu werden. Es solle ja eine Familiengeisterbahn bleiben.

Nach der Entwicklung der Nebensaison im Prater gefragt, bemüht die 44-Jährige ein Bild: "Es ist wie bei einer Schaukel, die in die Höhe geht." Damit ist wohl gemeint: Der Impuls ist gesetzt, doch manchmal muss man noch etwas antauchen. Den Winter nutzt Kolnhofer meist, um Neues für das kommende Jahr vorzubereiten. 2023 steht das 150-Jahr-Jubiläum der Weltausstellung im Prater an: "Dazu recherchiere ich gerade. Ich möchte das an den Mann bringen, am besten kommerziell."

Dazu kommen Arbeiten an den Attraktionen: Auf einem Turm des Geisterschlosses wurde eine LED-Wall angebracht, die vom Riesenrad aus gut sichtbar ist und leuchtet, wenn die Geisterbahn in Betrieb ist. Damit die aufgewärmten Besucherinnen und Besucher wissen, wo sie ins Schlottern kommen. (Stefanie Rachbauer, 13.12.2022)