Gute Miene zum aus seiner Sicht bösen Spiel von Kanzler Nehammer macht Vizekanzler Kogler nicht. Doch viel mehr als Zuschauen kann der Grüne nicht tun: Die ÖVP genießt laut Koalitionsmodus de facto freies Spiel.

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Karl Nehammer steht nicht nur gegenüber den anderen Regierungen der EU unter Rechtfertigungszwang. Am Montag trat der Kanzler im EU-Hauptausschuss des Nationalrats an, um sein Nein zum Schengen-Beitritt Rumäniens und Bulgariens zu erklären.

Mit im Gepäck hatte er neue Zahlen des Bundeskriminalamts (BKA), über die am Montag auch das Ö1-"Morgenjournal" berichtete. Demnach seien laut Überprüfung von heuer 75.000 in Österreich gelandeten "irregulären Migranten", die vorher in keinem anderen EU-Staat registriert wurden, 20.000 über Rumänien und/oder Bulgarien gereist. Für die ÖVP ist das ein Beleg, dass dort kein ausreichender Grenzschutz stattfinde — weshalb die beiden Ländern auch nicht Teil jenes Raumes werden dürften, innerhalb dessen Grenzkontrollen grundsätzlich abgeschafft sind.

Dass sich das in offiziellen Zahlen, wie etwa jenen der Grenzschutzagentur Frontex, nicht abbilde, sei logisch: Wer nicht registriert werde, lande nicht in der Statistik.

VIDEO: Innenminister Karner zum Schengenraum: "Das System funktioniert nicht."
DER STANDARD

Den grünen Koalitionspartner überzeugt dies nicht. Selbst wenn die BKA-Zahlen stimmten, entbehre die ÖVP-Argumentation der Logik, sagt Europasprecher Michel Reimon. Denn auch wer über Rumänien oder Bulgarien reise, komme am Ende stets durch Ungarn nach Österreich. Was nicht funktioniere, sei demnach die derzeitige Schengen-Außengrenze in Ungarn, so der Parlamentarier: "Ich verstehe nicht, warum wir uns dafür zwei andere Länder zum Gegner machen. Bei der künftigen Zusammenarbeit in der EU kann sich das bitter rächen."

Glaube an Schengen aufgegeben

Wenn ein System nicht funktioniere, dann dürfe die EU dieses nicht auch noch erweitern, hält man in der ÖVP entgegen. Selbst wenn sich Rumänien und Bulgarien voll dafür einsetzen würden, sei es unrealistisch, dass sie die Außengrenze schützen könnten. Es gehe nicht darum, die beiden Länder als Schuldige zu brandmarken, heißt es aus dem Innenministerium: Deshalb fordere man ja gerade mehr Unterstützung durch die EU ein.

Ob die Adressaten nicht die falschen seien, wenn laut BKA-Daten die große Mehrheit – nämlich 55.000 Personen – ganz ohne Umweg über Bulgarien und Rumänien, sondern direkt über Serbien und Ungarn gekommen sei? Auch da habe Österreich die Initiative ergriffen – und etwa erreicht, dass Serbien die Visafreiheit für Tunesier aufgehoben hat. Für Inder solle, so die Erwartung, bald das Gleiche gelten. Und gegenüber Ungarn kämpfe man ebenfalls um Verbesserungen.

Scheue vor Eskalation

ÖVP und Grüne bleiben also über Kreuz – steht die Regierung das durch? Ja, glaubt man in den Chefetagen auf beiden Seiten. Man habe den Partner ja nicht überrumpelt, sondern vorab informiert, heißt es aus der ÖVP, der koalitionsinterne grüne Protest falle auch keinesfalls dramatisch aus. Geht es um Verstimmung, fällt der türkisen Riege eher ein Ex-Grüner ein: Dass Bundespräsident Alexander Van der Bellen bei einem Besuch im Ausland, und zwar in Slowenien, das Schengen-Veto kritisiert hat, stieß auf Ärger.

Von einer Gefahr für die Koalition ist auch bei der kleineren Regierungspartei keine Rede: Wichtige Schritte im Kampf gegen Teuerung und Energiekrise zu erreichen habe dann doch einen größeren Stellenwert. Die Grünen hoffen, dass die ÖVP im Frühjahr, wenn die Landtagswahlen in Niederösterreich geschlagen sind, vom Veto abkehrt. Mit öffentlicher Kritik wollen sie sich deshalb zurückhalten: Je höher der Druck, so die Befürchtung, desto mehr könnten Nehammer und Innenminister Gerhard Karner auf stur schalten.

Schwieriger Weg zurück

Aber ist ein Rückzieher noch so einfach möglich? Zweifel nähren die fünf Bedingungen, die Nehammer der EU gestellt hat: Indem die ÖVP schwer umsetzbare Forderungen formuliere, von denen zumindest eine auf ein Aufweichen des Asylrechts hinausliefe, habe sie sich fatalerweise weitgehend eingebunkert, so eine grüne Leseart.

Gar so apoditktisch dürften die fünf Punkte allerdings nicht zu verstehen sein, ist aus dem Kanzleramt zu erfahren: Es handle sich um Vorschläge, nicht um Forderungen. Es seien auch andere Wege recht, um die Situation zu verbessern. Was der Maßstab sei? Die Zahl der Asylanträge müsse deutlich sinken: auf etwa 15.000 bis 20.000 pro Jahr.

Formell sind sich ÖVP und Grüne übrigens einig: Weil die Fachminister im europäischen Rat laut Vereinbarung entscheidungsfrei sind, handelt es sich beim Alleingang in der Schengen-Frage um keinen Koalitionsbruch. An diesem Prinzip wollen die Grünen auch nicht rütteln. Denn sonst könnte es passieren, dass umgekehrt Verkehrs- und Klimaministerin Leonore Gwessler an die Kette der ÖVP-Interessen gelegt wird. (Gerald John, 13.12.2022)