Taschenlampe als Lichtquelle: Odessa droht lang anhaltende Finsternis.

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Die Freude über die Wiederkehr der Möglichkeit, vermeintlich einfache Dinge zu tun – warm zu duschen, die Heizung aufzudrehen, ein Glas Leitungswasser zu trinken –, währte nur ein paar Stunden. Am Montagmorgen kehrte der Strom zurück in die Innenstadt von Odessa, der südukrainischen Schwarzmeer-Metropole, in der die Mehrheit der Menschen Russisch spricht und deren Eroberung seit Kriegsbeginn erklärtes Ziel der Kreml-Führung ist. Für ein paar Momente herrschte so etwas wie Normalität – bis am frühen Nachmittag wieder fast alle jener öffentlichen Dienstleistungen ausfielen, deren Funktionieren die meisten Menschen in Europa für selbstverständlich halten.

In der Nacht von Freitag auf Samstag hatte die russische Schwarzmeerflotte einen Schwarm von iranischen Drohnen nach Odessa geschickt, der die Stromversorgung der Stadt über das Wochenende komplett lahmlegte. Auch wenn von den nach Angaben des ukrainischen Militärs insgesamt 15 Drohnen zehn von der Luftabwehr teils noch draußen am Meer abgeschossen werden konnten, fanden fünf ihr Ziel. Der Schaden, den sie anrichteten, erwies sich als groß genug, um geschätzt 1,5 Millionen Menschen in der Stadt wie der Region Odessa zeitweise in Dunkelheit zu stürzen.

Reparatur als Sisyphos-Aufgabe

Auch wenn es Montagabend so aussah, dass ein langfristiger Totalausfall der Strom- und Wasserversorgung vorläufig vermieden werden konnte: Was die Strategie der lokalen Militär- wie der zivilen Verwaltung angeht, über den Winter zu kommen, herrscht mittlerweile zwar keine Ratlosigkeit, aber Realismus. Faktisch können die Verantwortlichen derzeit nichts machen außer das, was sie schon seit knapp zwei Wochen 24 Stunden am Tag tun: zu versuchen, die durch die russischen Angriffe immer neu entstehenden Schäden so schnell wie möglich zu reparieren. Weil die Angriffe aber nicht nachlassen, wird das zunehmend zur Sisyphos-Aufgabe.

Ein Beispiel dafür, wie ernst sich die Lage darstellt: Im Verlauf des Wochenendes drangen über die sozialen Medien interne Diskussionen der Zivilverwaltung von Odessa nach außen, laut denen manche seiner Angehörigen die Evakuierung bestimmter Gruppen aus der Stadt gefordert haben sollen. Insbesondere die von Familien mit Kindern und alten Menschen, die im Alltag tendenziell mehr als andere auf eine funktionierende Strom- und Warmwasserversorgung angewiesen sind. Auch wenn diese Diskussion von Sergei Bratschuk, dem Sprecher der Zivilverwaltung, im Anschluss dementiert wurde, gilt es als wahrscheinlich, dass man um Maßnahmen wie diese nicht herumkommen wird, wenn die derzeitige Intensität der Angriffe anhält.

Getreidedeal bisher nicht gefährdet

Einen der wenigen Lichtblicke bot der Zustand des für die Stadt wie die Ukraine wie für viele andere Länder im Rest der Welt überlebenswichtigen Hafens. Der sogenannte Getreidedeal, der unter Vermittlung der Türkei und der Uno im Juli geschlossen und Mitte November verlängert wurde, ist durch den Blackout bisher nicht gefährdet. Ohne die von Odessa nach Ostafrika und in den Nahen Osten auslaufenden, mit Getreide und anderen landwirtschaftlichen Produkten beladenen Containerschiffe droht dort laut dem World Food Programme (WFP) eine Hungersnot. Zumindest zum jetzigen Zeitpunkt scheinen die Lieferungen nach wie vor zu funktionieren; aber auch das kann sich von einem Tag auf den anderen ändern, wenn Russland nicht mit seinen Versuchen aufhört, den Odessitern den Stecker zu ziehen.

Das Einzige, was deshalb bleibt, ist die Hoffnung, dass es der Ukraine gelingt, die andauernden Angriffe auf ihre kritische Energieinfrastruktur so umfassend wie möglich abzuwehren und mit Ach und Weh, sprich mit gezielten Stromabschaltungen, extremen Sparmaßnahmen und einer Legion an Notstromaggregaten über den Winter zu kommen. Was nichts daran ändert, dass sich Europa, wenn das, was an diesem Wochenende in Odessa geschehen ist, in den kommenden Wochen von der Ausnahme zur Regel wird, auf eine neue Flüchtlingswelle einstellen muss. Sosehr sich die Menschen hier dagegen sträuben, die Stadt zu verlassen, und so ungebrochen ihr Widerstandswille auch sein mag: Wenn die Energieversorgung nachhaltig ausfallen sollte, ist es niemandem zuzumuten, hierzubleiben und quasi freiwillig zu erfrieren. (Klaus Stimeder, 12.12.2022)

VIDEO: Stromausfall in Odessa. Aus dem Liveticker "Ein Tag in Kiew und Odessa".
DER STANDARD