AMIRA BEN SAOUD

Bestes Album: BEYONCÉ – Renaissance

"Sei frei und geil" lautet das Motto auf Beyoncés siebtem Studioalbum. Gleichzeitig leistet Renaissance mehr, als uns nur in Wallung zu bringen. Es ist eine gelungene Geschichtsstunde in Sachen schwarzer Dance Music, eine Hommage an den Club als Möglichkeitsraum für Minderheiten. Königin Beyoncé verneigt sich vor den Altvorderen und lässt sie unter der Discokugel in neuem Glanz erstrahlen.

Bester Song: STROMAE – L’Enfer

"Die Hölle, das sind die anderen", sagte Sartre. Der Belgier Stromae aber weiß: "Die Hölle, das bin ich." Das Wissen, dass es anderen auch mies geht, hilft in der Depression reichlich wenig. Und so teilt Stromae seine Suizidgedanken auf der dramatischen Single L’Enfer, die wie das ganze Album Multitude mit verschiedenen Musikstilen und im Pop selten gehörten Instrumenten experimentiert. Herzzerreißend!

Newcomer: OG KEEMO – Mann beißt Hund

Rapper weinen normalerweise nicht. Als aber bereits im Jänner Mann beißt Hund des Mainzer Aufsteigers – strenggenommen ist er kein Newcomer – OG Keemo erschien, wird wohl der ein oder andere harte Kollege ein Tränchen verdrückt haben: Dieses Album würde schwer zu toppen sein. Die Geschichten vom Leben und den Menschen im Block sind bekannt, selten wurden sie aber so packend ehrlich, so wütend und verletzlich zugleich, so hochpoetisch erzählt.

Österreich: KENJI ARAKI – Leidenzwang

Ehrfurchtgebietend. Das ist Kenji Araki, das ist sein Sound, das ist sein Debütalbum. Nicht nur legt der junge Produzent ein beeindruckendes technisches Können an den Tag, er hat mit Leidenzwang auch eine Art Soundtrack für eine Welt aus den Fugen geschaffen. Kalt, dystopisch, digital, endzeitlich, aber von wunderschönen Melodien, kleinen Hoffnungsschimmern durchzogen.

Foto: Sony

KARL FLUCH

Bestes Album: HORACE ANDY – Midnight Rocker

Den brummigen Groove besorgt Soul-Brother Adrian Sherwood, erhebt dann der melancholische Falsett-Kaiser Horace Andy die Stimme, reißt die Nacht auf: Ein Silberstreif erscheint, der neue Tag streckt sich. Midnight Rocker ist ein Gipfeltreffen des Massive-Attack-Sängers mit dem Produzenten Sherwood. Die Früchte dieser Begegnung mögen dem Tageslicht gegenüber empfindlich sein, das Gemüt erhellen sie einem jedes Mal.

Bester Song: C. ADIGÉRY / B. PUPUL – Blenda

Das belgische Duo Charlotte Adigéry und Bolis Pupul veröffentlichte mit ihrem Debüt Topical Dancer ein Album, das ebenso locker in die Kategorie links oder rechts passte. Satt und fett produzierter Elektropop mit feministischen Texten, angesiedelt zwischen Sinnlichkeit und Denkerstirn. Tanzmusik für Clubber mit Brille und Buchregal. Die Message vibriert, der Bass insistiert – so lässt man sich gerne missionieren.

Newcomer: GABRIELS – Angels & Queens Part I

Mit Jacob Lusk haben Gabriels einen Showman, der eine Oscar-Nominierung riskiert, wenn er bloß einen Kaffee bestellt. Er ist Stimmgold und Wonneproppen dieses zwischen Club, R’n’B und Black-Lives-Matter-Gospel angesiedelten Trios, das mit Angels & Queens den ersten Teil seines Debüts vorlegte. Teil zwei folgt im März. Die Engelein, dick und dünne, sie jubilieren schon, wir elenden Erdlinge, wir preisen den Herrn – den Herrn Lusk.

Österreich: SAEDI – Token

Novemberstimmung im Kopf, den März im Herz, in diesen Gefühlslagen manövriert sich die Wienerin Tania Saedi durch das Album Token. Momentaufnahmen aus der Mitte des Lebens, für die sie getragene Balladen als Form wählt. Die Schwermut trifft auf Trip-Hop, die Hoffnung auf Vorbilder wie Nina Simone, die im Geiste präsent ist. Tonfall und Nonchalance des Vortrags erhöhen mit jeder Umdrehung den Klassikerverdacht.

Foto: Warner

RONALD POHL

Bestes Album: LOUDON WAINWRIGHT III – Lifetime Achievement

Man mag diesen 75-jährigen Folk- und Bänkelsänger für eine unverbesserliche Spottdrossel halten. Tatsächlich hat er den Liedvortrag revolutioniert. Heute kann es sich der Vater von Martha und Rufus Wainwright leisten, ein ganzes, vor Intensität bebendes Album über würdevolles Altern einzusingen. Wenn Bläser und Pedal-Steel-Gitarre einmal schweigen, liefert Loudon Wainwright III gerne a cappella. Gallig und genial.

Bester Song: ARCTIC MONKEYS – Big Ideas

Das Chaos ist aufgebraucht, es war die beste Zeit: Heute tragen die Arctic Monkeys, Sheffields Beitrag zur Indie-Kultur, Vintage-Anzüge in Crème- und Carameltönen. Sie parken auf ihrem aktuellen Albumcover ein Auto auf dem Hausdach. Das Streicherorchester stimmt ein in einen Grundton tiefer Resignation: Alex Turner singt die Ballade "von dem, was hätte sein können". Es ist, als würden Nougatberge schmelzen.

Newcomer: ROBERT SCHUMANN – The Complete Symphonies

Man hat den Romantiker Schumann für seine Symphonien oft und gerne gescholten. Sackig instrumentiert seien sie, rhetorisch umständlich, redundant. Jetzt nimmt sich mit Pablo Heras-Casado ein originalklangerfahrener Dirigent dieser köstlichen Eigensinnigkeiten an. Und siehe da, die Münchner Philharmoniker waschen den Grauschleier weg. Endlich ist Schumann kein Proto-Brahms mehr. Sondern ein Newcomer.

Österreich: WANDA – Wanda

Und bis nicht die letzte braune Lederjacke von Marco Wanda durchgeschwitzt worden ist, hat diese aberwitzig populäre (niemals: populistische!) Band ihren Kulturauftrag nicht ordnungsgemäß ausgeführt. Keyboarder Christian Hummer ist gestorben. Wanda wissen: "Die Welt ist ein tragischer Ort." Und doch: "Es kann immer so, so, so, so weitergehen." Und: "Nichts, was wir tun, wird je zur Legende werden." Welch ein Irrtum.

Proper Records

CHRISTIAN SCHACHINGER

Bestes Album: BURIAL – Antidawn

Der britische Produzent Burial liefert 2022 einen dystopischen Soundtrack, der einen frösteln lässt. Der Klimawandel ist vollzogen, die Landschaften sind auch durch Kriege endgültig verheert und zerstört. Irgendwoher aus den Ruinen unserer Zivilisation sendet noch ein batteriebetriebenes Radio letzte fragmentierte musikalische Grüße. Plattennadeln kratzen, weißes Rauschen. Geister der Vergangenheit gehen um.

Bester Song: SOFT CELL – Purple Zone

"Let’s get out of this life / I’m afraid and alone / Paralyzed in the purple zone." Unter Purple Zone versteht man eine exklusiv für britische Royals reservierte Flugzone. Man kann sie allgemein als vorgegebenen engen Lebensbereich interpretieren. Der große alte Poptragöde Marc Almond macht daraus mit Soft Cell und den Pet Shop Boys eine Hymne der Sehnsucht. Ganz, ganz großes Boomer-Tennis. Ein Befreiungsschlag in der Disco.

Newcomer: OLMO – The Trunk

Taschentücher raus. Beim Hören dieses Albums kann man mehr als eine Träne der Rührung verdrücken. Der italienische Pop-Schwermelancholiker Olmo alias Francesco Lo Guidice legt mit seinem Debütalbum ein zu Herzen gehendes Rührstück vor. Seinen Höhepunkt findet es gleich im ersten Song, dem im Hallraum verwehten Tornerai ("Du wirst zurückkommen"). Wer bei diesem Walzer nicht heult, ist schon lange tot. Punkt.

Österreich: MOSE – Puls

Die Vorarlberger Band ist schon lange im Geschäft. Mit dem aktuellen Album Puls gelangt sie allerdings zur Meisterschaft. Meist ruhige, instrumentale, aus Improvisationen entstandene Stücke laden dazu ein, nachts einmal den Computer herunterzufahren und einfach aus dem Fenster zu schauen. Mal schauen, was passiert. Irgendwann wird es dann langsam hell – und draußen kehrt das Leben zurück. Alles ist gut.

Foto: Hyperdub

LJUBISA TOSIC

Bestes Album: ASMIK GRIGORIAN – Dissonance

Sie war die Sensation als Salome bei den Salzburger Festspielen, sie wird sich ebendort 2023 blutige Intrigenhände als Verdis Lady Macbeth holen. Asmik Grigorian versteht es aber auch, die kleine Liedform gestalterisch zum emotionalen Abenteuer emporzusingen. Mit Pianist Lukas Geniušas interpretiert sie Rachmaninoff. Expressiv, direkt, weniger dem Schönklang als dem Authentischen verpflichtet, aber nie grob.

Bester Song: ATTENSAM QUARTETT / FALK – Da Himme fia uns Weana

Das formidable Attensam Quartett und Bariton Holger Fink haben bei Friedrich Cerhas Keintate I, II (bei Kairos) jene bittersüße Ausdrucksmischung aus erdigem Sound, gebrochener Idylle und poetischem Schweben herbeigezaubert. Das Weinselige findet sich von Ambivalenz umwölkt. Das Lied Da Himme fia uns Weana mag als Einstiegsminiatur genutztw werden, um sich dann bitte die ganze Wienbetrachtung zu gönnen.

Newcomer: VIKINGUR ÓLAFSSON – From Afar

Der junge Pianist Víkingur Ólafsson liefert mit From Afar (DG) den Beweis, dass die CD konzeptuell Sinn machen kann. Er mixt nicht nur Stücke von Kurtág, Brahms und Schumann. Er hat die Stücke sogar zweimal aufgenommen: auf einem Steinway-Flügel und dann auf einem Klavier, dessen Klang durch eine Filzdecke auf den Saiten gedämpft wird. Interessant: Das "Filzklavier" ermöglicht bei Kurtág mehr Intimität.

Österreich: LITTLE ROSIES KINDERGARTEN – Jeder gegen jeden

Die Formation Little Rosies Kindergarten schafft es, die Möglichkeiten einer Großbesetzung originell-farbprall zu befeuern. Dabei wird eine schöne Balance zwischen Individuum und Kollektiv hergestellt. Der "Kindergarten", der sich stilistisch verspielt zwischen Jazzrock und Kammermusik der europäischen Art ansiedelt, erlangt dadurch auf Jeder gegen jeden jenes Maß an Unberechenbarkeit, welche alle gute Musik braucht. (13.12.2022)

Alpha Classics