In Mumbai kam es nach Bekanntwerden der Zusammenstöße zu Protesten gegen chinesisches Eindringen.

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Eigentlich standen die Zeichen auf Deeskalation. Noch im September hatten sich China und Indien darauf geeinigt, ihre Truppen in einer entlegenen Bergregion im Westhimalaja zu entflechten. Zwei Jahre waren seit den tödlichen Zusammenstößen vergangen. Der Abzug löste Überraschung und vor allem Durchatmen aus, denn kaum jemand hatte in dem Grenzstreit mit Entspannung gerechnet. Doch spätestens diese Woche sind die Hoffnungen, dass sich die Entspannung auf andere Abschnitte des umstrittenen Grenzverlaufs auswirkt, verblasst. 3.800 Kilometer ist die Grenze lang. An mehreren Punkten, sowohl im Westen als auch im Osten, gibt es Probleme.

Denn wie Anfang dieser Woche bekannt wurde, war es am Freitag zu einem gröberen Zusammenstoß zwischen chinesischen und indischen Soldaten in Arunachal Pradesh gekommen. Die Region liegt im Osten des Himalaja-Kamms, wird von Indien administriert, aber auch von China beansprucht. Eine sogenannte "Line of Actual Control" (LAC) durchzieht die Berge, die die Truppen beider Länder praktisch auseinanderhalten soll.

Eben in der Nähe jener Linie, hoch oben auf über 4.000 Metern, sollen patrouillierende Soldaten nachts in ein Handgemenge geraten sein. Mindestens ein halbes Dutzend indischer Soldaten wurde laut Reuters verletzt, auch auf chinesischer Seite gibt es Verletzte. Berichte über Todesopfer gibt es aber keine.

Betont wird dabei, dass keine Feuerwaffen benutzt werden. Denn laut bilateralen Abkommen sind diese verboten – bisher war es immer noch beiden Seiten wichtig, diese rote Linie nicht zu übertreten. Wenn es also zu Zusammenstößen im Himalaja kommt, dann mit so kruden Mitteln wie Knüppeln oder Fäusten.

Vorwürfe wegen verbotener Übertritte

Indische Truppen hätte chinesische davon abgehalten, indisches Territorium zu betreten, hieß es dazu am Montag vom indischen Verteidigungsministerium. Diese wollten den "Status quo" ändern, sprich über Land, das von Indien beansprucht wird, Kontrolle erlangen.

Vonseiten der chinesischen Volksbefreiungsarmee (PLA) hieß es wiederum, dass indische Truppen die LAC übertreten hätten. Man sei "effektiv und professionell" vorgegangen und habe die Situation "stabilisiert", gab ein Sprecher bekannt. Nach dem Zwischenfall hätten sich Generäle beider Seiten getroffen.

Auch auf indischer Seite wurde der Straßenausbau in den Grenzregionen von Arunachal Pradesh in den letzten Jahren forciert.
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Dass sich die zwei asiatischen Riesen gegenseitige Übertritte vorwerfen, ist nichts Neues. Doch nur selten kommt es dabei zu Gewaltausbrüchen. Die Region zählt zu jenen Gebieten, die seit dem Krieg zwischen Indien und China 1962 umstritten sind. Nur an manchen Stellen konnten sich die Kriegsparteien auf einen Grenzverlauf einigen. So beansprucht China Arunachal Pradesh für sich, immerhin lag die buddhistische Region über lange Phasen in der Machtsphäre Tibets. Indien sieht das anders. Es beruft sich auf die britische Grenzziehung aus dem frühen 20. Jahrhundert – die sogenannte McMohan-Linie –, laut der das Gebiet zu Indien gehöre.

Wasserkraft und Kontrolle

Was heute passiert, ist aber viel mehr als reine Symbolpolitik. Die Gipfel und Pässe des höchsten Gebirges der Welt zu kontrollieren hat strategische und praktische Gründe. So bietet die Region viele Möglichkeiten bei der Wasserkraft. Außerdem sichert Kontrolle in den Bergen Territorium im Inneren ab.

Immer wieder kommt es daher zu Zusammenstößen, sowohl im Osten als auch im Westen. Im Sommer 2020 sind bei dem seit Jahrzehnten blutigsten Ereignis in Ladakh mehrere Dutzend Soldaten gestorben. Manche wären im Handgemenge von Klippen gefallen, hieß es damals. Bereits drei Jahre zuvor waren sich im Sommer Soldaten beider Seiten über den ganzen Sommer hinweg auf dem Doklam-Plateau gegenübergestanden, im Dreiländereck Bhutan, Indien und China.

Das abgeschiedene Arunachal Pradesh, das nur durch einen schmalen Korridor mit Restindien verbunden ist, gilt oft als größter Zankapfel zwischen den Atommächten. Schon während der Krise in Ladakh mutmaßten Beobachter, dass es Peking dort nicht bloß darum gehen könnte, am Ende mehr Verhandlungsmacht in Sachen Arunachal Pradesh in der Hand zu haben.

Freie Sicht Richtung Süden

Schon seit längerem versuchen chinesische Truppen Kontrolle über einen Gipfel zu erlangen, der die Sicht Richtung Süden und somit auf indische Truppenbewegungen freigeben würde. Genau in der Region kam es nun zu dem Zusammenstoß. Auf chinesisch kontrollierter Seite, nur wenige Kilometer von dem Punkt entfernt, soll Peking wiederum in rund 4.400 Meter Höhe eines seiner "Xiaokang-Dörfer" errichtet haben. Mit dieser Siedlungsinitiative sollen seit einigen Jahren abgeschiedene Grenzregionen abgesichert werden.

Indien beginnt langsam, auf diese Vorstöße im Gebirge zu antworten. Premierminister Narendra Modi besuchte etwa im Oktober das entlegene Dorf Mana im Westhimalaja: Dieses sei nicht "das letzte Dorf" Indiens, sondern "das erste", wie er bei einer Rede betonte. Und auch auf indischer Seite werden Straßen in die Grenzregionen ausgebaut und Tourismuskampagnen lanciert, um die Regionen aufzuwerten.

Der zunehmende Konflikt zwischen den zwei riesigen Ländern führt aber auch dazu, dass die ohnehin unwirtlichen Regionen in den Bergen zu unmöglichen Zeiten benutzt und betreten werden. Dass es zu dieser Jahreszeit überhaupt zu einem Zusammenstoß kam, ist unüblich. Im Winter sind die Pässe verschneit und gefährlich. Schon vergangenen Februar kamen in der gleichen Gegend sieben indische Soldaten bei einer Lawine ums Leben. Früher patrouillierten die Soldaten nicht im Winter.

Wie sich nun wieder gezeigt hat, werden auch die Umgehungen des Waffenverbots immer "zynischer", wie Journalist und Autor Ananth Krishnan schreibt. Es gäbe aber – trotz anderslautender Gerüchte – keinen Grund zu glauben, dass es Schusswechsel gegeben hätte. (Anna Sawerthal, 13.12.2022)