In China rollt nach dem Aufheben der Null-Covid-Politik gerade eine neue Corona-Welle durch das Land, die viele neue Hospitalisierungen mit sich bringt.
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Welche Menschen "an Corona" verstorben sind und welche nicht, sorgte hierzulande an Stammtischen und abseits davon bereits für hitzige Debatten. Abseits der genauen Zählung der Corona-Toten ist vor allem die sogenannte Übersterblichkeit relevant. Diese Größe ergibt sich nicht aus der Zählung einzelner Todesfälle und der Ermittlung der Todesursache. Sie entstammt vielmehr dem Versuch, den Istzustand mit einem hypothetischen Normalzustand zu vergleichen. Im Grunde fragt die Wissenschaft hier "Was wäre, wenn".

Die Zahl der international an Covid-19 Verstorbenen wird derzeit allein für die Jahre 2020 und 2021 mit etwa 5,42 Millionen angegeben. Bereits im Mai ergab eine von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) veröffentlichte Schätzung, dass die wahre Anzahl der auf die Pandemie zurückzuführenden Todesfälle bei etwa 14,9 Millionen liegt, was sich mit früheren Schätzungen deckte. Damals wurden allerdings die Methoden als zu komplex und möglicherweise fehlerbehaftet kritisiert. In Deutschland sei es etwa durch eine Grippewelle zu Verfälschungen gekommen.

Die WHO sah sich gezwungen zu reagieren und passte die Berechnungsmethode an. Nun bestätigt eine von Forschenden der WHO, der Hebrew University Jerusalem und der Universität Washington in Seattle im Fachjournal "Nature" veröffentlichte Studie diese Zahl mit 14,83 Millionen Toten im Wesentlichen und liefert detailliertere Einsichten in die regionalen Unterschiede der Übersterblichkeit.

Doch auch jetzt bleiben Unsicherheiten. Die Datenlage in manchen Regionen erwies sich als besondere Herausforderung. Nur 100 Länder hätten detaillierte Aufzeichnungen über Corona-Todesfälle liefern können, das ist etwa die Hälfte. 43 Prozent der Staaten lieferten überhaupt keine Daten. Hier musste mit Schätzungen gearbeitet werden.

Länder mit mittleren Einkommen sind besonders betroffen

Die höchsten Todeszahlen wurden für Länder mit mittlerem oder geringem Einkommen ermittelt. Über 50 Prozent der Todesfälle gingen auf das Konto dieser Staaten. Dabei zeigt sich allerdings, dass der Großteil der Toten in Ländern mit mittleren Einkommen zu verzeichnen war.

Ein Corona-Patient wird mit dem Flugzeug überstellt.
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Der Grund dafür, dass es in einkommensschwachen Ländern zu weniger Übersterblichkeit kam, liegt laut den Autorinnen und Autoren der Studie an der unterschiedlichen Altersstruktur. In armen Ländern ist der Anteil junger Menschen höher, die ein geringeres Risiko hätten, an Covid-19 zu versterben.

Gerade im Jahr 2021 sei die Übersterblichkeit besonders groß gewesen, berichten die Forschenden. Sie führen es darauf zurück, dass sich das Virus in diesem Jahr besonders in bisher wenig betroffenen, dichtbesiedelten Ballungsräumen durchsetzte, in denen die Impfrate nicht mit der Verbreitung des Virus mithalten konnte.

Um die Krise wirklich überwinden zu können, müssten dringend genauere Daten über die Sterblichkeit der Bevölkerung erhoben werden, lautet das Fazit der Studie.

Unsicherheit bleibt bestehen

Die Zahlen sind allerdings mit Unsicherheit behaftet, warnen Fachleute. Christoph Rothe, Leiter des Lehrstuhls für Statistik an der Universität Mannheim, spricht von Unklarheiten der Zahlen für Deutschland: Nach der Kritik vom Mai habe man hier eine andere Berechnungsmethode verwendet, die auf 122.000 Todesfälle kommt, was "noch immer deutlich über den verlässlicheren Schätzungen des Statistischen Bundesamts von etwa 70.000 Fällen und der aus Studien von De Nicola, Kauermann und Höhle von etwa 35.000 Fällen liegt", wie Rothe betont. Die global ermittelte Übersterblichkeit "sollte aber von der richtigen Größenordnung sein", beruhigt Rothe.

Hannu Ulmer von der Medizinischen Universität Innsbruck meint, der Wunsch der WHO, die COVID-19-Pandemie mit einigen wenigen Zahlen zur Übersterblichkeit einordnen zu können, sei verständlich, doch: "Letztlich handelt es sich jedoch um eine sehr grobe Schätzung, die für einzelne Länder nicht zutreffend sein muss." Er weist darauf hin, dass Peru in der Berechnung einsamer Spitzenreiter bei der Übersterblichkeit ist, es aber in den betrachteten Jahren auch zu einem Denguefieber-Ausbruch kam, der die Zahlen verfälschen könnte. Allerdings war die Zahl der an Covid-19 Verstorbenen schon vor dem Dengue-Ausbruch im internationalen Vergleich außergewöhnlich hoch. Ulmer rät dennoch dazu, die Arbeit nicht als Schätzung der Todesfälle durch Corona zu betrachten, sondern als Arbeit zur gesamten Übersterblichkeit in den Pandemiejahren 2020 und 2021.

Auch das Fachjournal "Nature" selbst hat zu der Studie einen kritischen Kommentar des Forschers Enrique Acosta vom Max-Planck-Institut für demografische Forschung in Rostock veröffentlicht, der rät, die neuen Ergebnisse mit "besonderer Vorsicht" zu interpretieren. Eine Studie eines Datenteams der Wirtschaftszeitung "The Economist" kam allerdings im September letzten Jahres ebenfalls auf über 15 Millionen direkt oder indirekt durch die Corona-Pandemie verursachte Todesfälle.

Hohe Übersterblichkeit

Eines sei trotz aller Zweifel klar, sagt Acostas Kollege am Max-Planck-Institut, Jonas Schöley: "Die durch Covid-19 verursachte Übersterblichkeit ist in ihrer Höhe und in ihrem globalen Ausmaß einzigartig in den letzten 70 Jahren." In stark von der Pandemie betroffenen Ländern sei der Wert jedenfalls weit höher gelegen als beispielsweise während einer schweren Grippesaison. "Das Risiko, an Covid-19 zu sterben, ist keine Größe, die über die Zeit konstant bleibt und wird durch Impfungen substanziell reduziert", sagt Schöley. Letzteres bestätigte kürzlich auch eine Studie des Journals der American Medical Association vom November 2022.

In Österreich ist die Übersterblichkeit nach wie vor hoch. Hierzulande starben 2021 etwa 15.000 Menschen mehr, als ohne die Pandemie zu erwarten gewesen wäre. Die direkt auf Covid-19 zurückgeführten Todesfälle gingen allerdings zurück. Konnten 2020 noch 75 Prozent der zusätzlichen Todesfälle auf eine Corona-Erkrankung zurückgeführt werden, waren es 2021 nur noch 45 Prozent. Auch 2022 gibt es wieder 3.500 zusätzliche Tote im Vergleich zum Zeitraum 2015 bis 2019. (Reinhard Kleindl, 14.12.2022)