Entlang der Grenze zwischen Serbien und Ungarn steht ein bis zu drei Meter hoher Metallzaun. Obendrauf liegt Stacheldraht mit rasiermesserscharfen Klingen.

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Flüchtlinge und Migranten auf dem Weg nach Westeuropa stoßen an der Grenze zwischen Serbien und Ungarn auf ein mächtiges Hindernis. Entlang des 160 Kilometer langen Grenzverlaufs türmt sich vor ihnen ein bis zu drei Meter hoher Metallzaun auf. Obendrauf liegt Stacheldraht mit rasiermesserscharfen Klingen. Rund 260.000 Mal seien Menschen am Zaun allein in diesem Jahr am "illegalen Grenzübertritt" gehindert oder nach einem solchen nach Serbien gebracht worden, wie aus den ungarischen Polizeistatistiken hervorgeht.

In diesem Lichte erscheint es erstaunlich, dass immer noch Zehntausende durch Ungarn nach Österreich kommen, zuletzt in erhöhter Zahl. Der Vorwurf, die Ungarn würden die Migranten "durchwinken", steht zwar im Raum, bildet aber einen Widerspruch zur Wahrnehmung der Realitäten am ungarischen Grenzzaun.

260.000 gescheiterte Zaunüberwindungen bedeuten freilich nicht 260.000 Menschen, die es versucht hätten. Wer sich im serbischen Grenzgebiet umhört, kann erfahren, dass viele von ihnen es immer wieder von neuem versuchen, wenn sie gescheitert sind. Die Migranten nennen es das "Game", das Spiel. Manche behaupten, es schon dutzende Male "gespielt" zu haben.

Null-Asyl-Politik

Den Zaun hatte Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán im Herbst 2015 errichten lassen, auf dem Höhepunkt der damaligen Flüchtlingsbewegungen nach Europa. Der Rechtspopulist verfolgt eine strikte, von europäischen Gerichten mehrfach verurteilte Null-Asyl-Politik. In Ungarn ist es – etwa nach der Festnahme durch Polizeiorgane – nicht möglich, einen Asylantrag zu stellen.

Wer ohne Aufenthaltstitel in Ungarn aufgegriffen wird, wird unverzüglich über die Grenze nach Serbien zurückgeschoben – durch eigene Funktionstore im Grenzzaun. Die Rückschiebungen erfolgen ohne Kontaktaufnahme mit den serbischen Behörden. Nach internationalem und europäischem Recht sind Pushbacks illegal. Orbán kümmert das nicht. Von Gleichgesinnten lässt er sich dafür als "Burgkapitän der letzten Festung Europas" feiern.

Trotzdem schaffen es Migranten und Flüchtlinge immer wieder, den Grenzzaun zu überwinden und unerkannt mithilfe von Schleppern nach Österreich zu kommen. Dafür, dass die Ungarn sie durchwinken würden, gibt es keine Anhaltspunkte. Oft lässt sich der Zaun mit Leitern und Schneidzangen überwinden, weil es der ungarischen Grenzwache an Personal fehlt.

Immer wieder kommt es zu Unfällen von Schlepper-Fahrzeugen, manchmal nicht weit weg von der österreichischen Grenze. Die Fahrer, denen im Falle der Festnahme lange Gefängnisstrafen drohen, stehen oft unter hohem Adrenalindruck. Erst im September stürzte eine mit elf Migranten vollgepackte Limousine wenige Kilometer vor der österreichischen Grenze in die Rabnitz (ungarisch: Répce). Der Schlepper und drei Migranten starben.

Reger Warenverkehr

Zugleich setzt das Schleusergeschäft enorme Summen um. Vielen, die das "Game" spielen, fehlt das Geld, um sich von Schleppern lotsen zu lassen, die oft Mittel haben, um Polizisten und ihre Vorgesetzten zu bestechen. Das südosteuropäische Recherchenetzwerk BIRN deckte auf, dass eine Schlepperorganisation in Serbien Zahlungen an einen Polizeimajor leistete. Die Aktivitäten habe der damalige Innenminister und heutige Geheimdienstchef Aleksandar Vulin gedeckt, der als Vertrauter des serbischen Präsidenten Aleksandar Vučić gilt.

Ähnliche Enthüllungen auf ungarischer Seite gab es bisher nicht – was nicht heißt, dass nicht auch ungarische Grenzorgane bestechlich wären. Darauf deuten gelegentliche Festnahmen unter Zöllnern an den ungarisch-serbischen Grenzübergängen Röszke und Tompa hin, über die Waren von beträchtlichem Umfang in die EU fließen, darunter auch Drogen. Orbán und Vučić, deren Nähe auch Österreichs Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) sucht, sind jedenfalls beste Freunde. (Gregor Mayer aus Budapest, 15.12.2022)