Eine Demonstrantin auf der Weltnaturkonferenz in Montreal fordert den Erhalt des Lebensraums der Lachse.

Foto: Reuters / Christinne Muschi

Die Erwartungen sind groß: Auf der Weltnaturkonferenz in Montreal wollen die Staaten einen Vertrag schließen, der für den Artenschutz eine ähnliche Tragweite haben soll wie das Pariser Abkommen für das Klima. Die Aufgabe ist gewaltig – rund eine Million Arten stehen vor dem Verschwinden. Die Wissenschaft spricht vom sechsten Massensterben. Der neue Vertrag soll einen Weg vorzeichnen, das aufzuhalten.

Jetzt, zur Halbzeit der Konferenz, ist allerdings noch keine Einigung in Sicht. Viele Fragen sind offen. Nachdem in der ersten Woche der Konferenz vor allem auf technischer Ebene verhandelt wurde, übernehmen nun die Ministerinnen und Minister. Sie sollen neuen Schwung in die Verhandlungen bringen und Kompromisse in kritischen Fragen ausfeilschen.

Mehr Papiertiger als Rückzugsort

Dazu zählt einer der Hauptpunkte des Abkommens: Bis 2030 sollen 30 Prozent der Erdoberfläche geschützt werden. Doch einige große Staaten blockieren, kritisiert Klima- und Umweltministerin Leonore Gewessler, die seit Mittwoch in Montreal ist. "Viel zu oft steht noch der Wunsch nach Ausbeutung der Natur im Vordergrund", so Gewessler.

Vor allem geht es dabei um das Kleingedruckte: Wie umfassend sollen die Gebiete geschützt werden? Dazu finden sich in Entwürfen bislang die Wörter "vollkommen" und "stark" – doch einige Länder wollen diese Begriffe lieber streichen. Das würde den Beschluss verwässern: Schon heute ist so manches Schutzgebiet mehr ein Papiertiger als ein tatsächlicher Rückzugsort.

Weltweit stehen laut der Weltnaturschutzunion IUCN knapp 17 Prozent der Landflächen und Binnengewässer und rund 7,5 Prozent der Meere unter Schutz. Doch nicht all diese Zonen erfüllen ihre Rolle, mahnt die Organisation. "Es ist nicht genug, neue Gebiete als geschützt zu erklären und als solche aufzulisten", erklärt Neville Ash, Direktor des UN-Monitoring-Zentrums für Naturschutz. "Sie müssen effektiv gemanagt werden, damit sie ihr Potenzial auf lokaler und globaler Ebene erfüllen und eine bessere Zukunft für die Menschheit und den Planeten sicherstellen können."

80 Prozent der Pflanzen und Tierarten in indigenen Gebieten

So wird in vielen Meeresschutzgebieten weiterhin gefischt oder gar nach Erdöl gesucht, wie zum Beispiel im deutschen Wattenmeer. In Schutzgebieten an Land darf mancherorts weiter Landwirtschaft, inklusive Pestizideinsatzes, betrieben werden. "Auf der Konferenz in Montreal braucht es deshalb eine klare Formulierung, was der Schutzstatus bedeuten soll", sagt Ursula Bittner von Greenpeace Österreich, die die Konferenz vor Ort verfolgt.

Dabei wird auch diskutiert, was die Schutzzonen für die Rechte indigener Bevölkerungen bedeuten sollen. "Dieser Prozess für den Artenschutz muss Indigene ins Zentrum stellen", zitiert die Nachrichtenagentur Reuters Dinamam Tuxá, Anwalt für Brasiliens größte Indigenen-Dachorganisation.

Denn zwar machen indigene Gruppen nur rund fünf Prozent der Weltbevölkerung aus, doch befinden sich laut der Weltbank etwa 80 Prozent der verbleibenden Pflanzen und Tierarten auf ihren Territorien.

Indigene Gruppen ziehen mit dem Protestmarsch für Biodiversität und Menschenrechte durch Montreal. Rund 3500 Demonstrantinnen und Demonstranten schlossen sich an.
Foto: AFP / Alexis Aubin

Neue Regelung für Nutzung digitaler Bio-Daten

Neben dem 30-Prozent-Schutzziel steht auch die sogenannte digitale Sequenzierung (DSI) auf der Agenda. Dabei geht es um das Problem, dass digitale Informationen über biologisches Material von Konzernen weltweit genutzt werden können. Jene Länder, aus denen die DNA-Codes ursprünglich stammen, wollen mitprofitieren, wenn etwa ein Pharma- oder Kosmetikkonzern die Daten für ein neues Produkt verwendet.

Während Länder wie Indien und Bangladesch eine Regelung zur DSI-Nutzung fordern, stellen sich Japan, Südkorea und die Schweiz bislang quer. Das globale Abkommen wird allerdings kaum ohne einen Kompromiss hierzu gelingen. "Entwicklungsländer verknüpfen Fortschritte bei diesem Thema mit einer Zustimmung zum globalen strategischen Plan für die Biodiversität 2030", so Helmut Gaugitsch vom Umweltbundesamt.

Ein dritter Baustein der Verhandlungen beseht aus – ähnlich wie auf der Klimakonferenz vor einem Monat – neuen Zusagen für finanzielle Unterstützung. So fordern unter anderem Brasilien, Bolivien, Ägypten und Liberia einen neuen Biodiversitäts-Fonds. Der geforderte Betrag ist derselbe wie in der Klimafinanzierung: Entwickelte Länder sollten jährlich mindestens 100 Milliarden Dollar bereitstellen, damit Entwicklungsländer ihre Artenschutzpläne umsetzen können.

Droht ein "Kopenhagen-Moment"?

Bisher ist kein Durchbruch zu den drei Punkten – dem 30-Prozent-Schutzziel, der digitalen Sequenzierung und der Klimafinanzierung – in Sicht. Ganz im Gegenteil: Verhandlerinnen und Verhandler warnen bereits vor einem "Kopenhagen-Moment", wie das britische Medium The Guardian berichtet. Sie beziehen sich auf die Weltklimakonferenz 2009, die in der dänischen Hauptstadt mit einer besonders schwachen Abschlusserklärung endete.

Als einen Grund für die stockenden Verhandlungen nennen sie ein Führungsvakuum seitens Chinas, wo die Konferenz ursprünglich hätte stattfinden sollen. Aufgrund der chinesischen Null-Covid-Politik wurde die Konferenz nach Kanada verlegt. Dennoch moderiert China die Verhandlungen.

Die Hoffnung, dass die zweite Verhandlungswoche besser läuft und in den kommenden Tagen doch noch ein Durchbruch gelingt, liegt auf den Ministerinnen und Ministern. "So notwendig ein gutes Ergebnis ist, so realistisch müssen wir mit unseren Erwartungen sein", sagt Gewessler nach ihrer Ankunft nüchtern. "Die Vorzeichen dieser Konferenz sind schwierig." (Alicia Prager, 15.12.2022)

DER STANDARD