Dass eine Waffenruhe in der Ukraine über Weihnachten nicht mehr als ein frommer Wunsch ist, hat Kreml-Sprecher Dmitri Peskow bereits Mitte der Woche unmissverständlich klargestellt: Eine Feuerpause während des Weihnachtsfests, sei es wie vom gregorianischen Kalender vorgesehen am 25. Dezember oder am 7. Jänner, wenn Weihnachten nach julianischer Tradition in Russland und der Ukraine gefeiert wird, stehe für die Moskauer Kriegsherren "nicht auf der Agenda".

Ganz im Gegenteil: Hatten Fachleute bis vor kurzem noch eine – wenn auch bloß winterbedingt erzwungene – Verlangsamung der Kampfhandlungen rund um den Jahreswechsel prognostiziert, warnt Kiew nun nach Informationen der britischen Zeitungen "Guardian" und "Economist" vor einer umfangreichen Bodenoffensive Russlands in der Ukraine in den ersten Wochen des neuen Jahres. Und auch aktuell schlägt die russische Kriegsmaschinerie zu: Am Freitag hat die russische Armee zahlreiche Regionen der Ukraine mit den schwersten Raketenangriffen seit Wochen überzogen. In weiten Teilen des Landes herrschte Luftalarm.

Der Winter dürfte nicht zu einer Beruhigung der Kämpfe führen – ganz im Gegenteil. Am Freitag wurde abermals Luftalarm in Kiew ausgerufen, hochrangige ukrainische Militärs fürchten gar einen erneuten Versuch Russlands, die Hauptstadt einzunehmen.
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  • Warnung vor Winteroffensive

Hochrangige Mitglieder der ukrainischen Führung rechnen damit, dass Wladimir Putin im Februar, wenn nicht sogar schon im Jänner, einen weiteren Versuch starten werde, die Ukraine militärisch entscheidend zu treffen. Im "Economist" sagte der ukrainische Armeechef Walerij Saluschnyj, Russland bereite zur Stunde 200.000 Soldaten auf einen neuen Versuch vor, vom Donbass oder vom Vasallenstaat Belarus aus in die Ukraine einzufallen – "ohne Zweifel mit dem Ziel, Kiew zu erobern".

Die jüngsten Erfolge der ukrainischen Truppen im Kampf gegen die Invasorinnen und Invasoren, die Rückeroberung Charkiws etwa oder die Befreiung Chersons, wären dann bloß Scheinsiege. "Die russische Mobilmachung hat funktioniert, sie sind 100-prozentig vorbereitet", sagte Saluschnyj.

Eine Einschätzung, die auch Verteidigungsminister Oleksij Resnikow im Gespräch mit dem "Guardian" teilt. Von den 300.000 im Herbst mobilisierten russischen Soldaten habe der Kreml die eine Hälfte dafür eingesetzt, gefallene oder unter Druck geratene Truppenteile zu ersetzen oder zu verstärken, die andere Hälfte hingegen werde weit besser trainiert und für zukünftige Offensiven aufgespart. "Der Kreml versucht neue Wege zum Sieg zu finden", ist Resnikow überzeugt.

Auch der Bundesheer-Analyst Markus Reisner von der Theresianischen Militärakademie in Wiener Neustadt sieht Russland im Gespräch mit dem STANDARD keineswegs auf dem Boden liegend. Die Befreiung Chersons etwa, so sehr sie von der befreiten Bevölkerung in der so lange besetzten Stadt auch gefeiert wurde, betrachtet Reisner als zweischneidiges Schwert: "Dass dort 30.000 russische Soldaten den Fluss Dnipro überqueren konnten, ohne dass ein Schuss fällt, bedeutet auch, dass diese Truppen Russlands Verteidigungslinien anderswo verstärken werden oder dass man mit ihnen sogar wieder in die Offensive gehen kann."

Nach wie vor könne Russland allein entscheiden, "wann, wo und wie sie die Ukraine in der Tiefe ihres Landes treffen können", sagt Reisner – auf strategischer Ebene halte der Kreml nach wie vor die Zügel in der Hand.

  • Putin reist zu Lukaschenko

Und auch von anderswo droht der Ukraine womöglich weiteres Ungemach. Wladimir Putins geplante Reise zu seinem belarussischen Vasallen Alexander Lukaschenko am kommenden Montag wird auch vor dem Hintergrund einer möglicherweise drohenden Gefahr aus dem Norden von Kiew mit Argusaugen beobachtet. Belarus und die Ukraine teilen eine 1.085 Kilometer lange Grenze. Zwar wird der Machthaber in Minsk nicht müde zu betonen, dass sich seine Truppen nicht an der "militärischen Spezialoperation" seines russischen Kollegen gegen die Ukraine beteiligen würden.

Die Fakten auf dem Boden wecken aber doch Skepsis. Mitte Oktober hatten die beiden Armeen eine gemeinsame Einheit gebildet, zu "rein defensiven Zwecken", wie Lukaschenko beteuerte. 9.000 russische Soldaten, hunderte Panzer und Mörser sind seither auf insgesamt vier Truppenübungsplätzen im Osten sowie im Zentrum von Belarus stationiert – mindestens. Auch einige der massiven Luftangriffe auf ukrainische Städte und die kritische Infrastruktur des Landes sollen nach Angaben von Kiews Generalstab von Belarus aus gestartet worden sein.

  • Westen ortet Munitionsknappheit

Während der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj den Westen so wie jüngst auf dem EU-Gipfel in Brüssel um weiteres schweres Kriegsgerät bittet – und etwa von Deutschland meist Absagen kassiert –, ortet der britische Generalstabschef Tony Radakin umgekehrt bei Russlands Armee immer eklatanter werdende Mängel, was Munition betrifft. "Russland verliert, und die freie Welt gewinnt", schätzte Londons oberster Soldat zur Wochenmitte die Lage in der Ukraine ein. Gerade der Mangel an Munition schränke Moskaus Fähigkeiten, erfolgreiche Bodenoffensiven zu führen, drastisch ein.

Auch die USA, die der Ukraine bisher den Löwenanteil an Rüstungsgütern zur Verfügung stellen, gehen von einem rasch schwindenden Waffenarsenal in Russlands Armee aus. Washingtons oberste Geheimdienstkoordinatorin Avril Haines hatte schon Anfang Dezember erklärt, Moskau könne seine schwindenden Arsenale kaum mehr selbst ersetzen.

Bundesheerfachmann Reisner ist weniger optimistisch: "Russland hat schon in den acht Jahren vor dem 24. Februar 2022 massiv ukrainische Munitionslager zerstört, man geht von 210.000 Tonnen Munition aus, die da zerstört wurden. Das fehlt der Ukraine nun natürlich. Auf der anderen Seite stehen Russland bis heute riesige Mengen alter, sowjetischer Artilleriemunition zur Verfügung. Im Sommer hat der Westen die Ukraine in die Lage versetzt, mit den Himars-Raketenwerfern und mithilfe von Aufklärung der USA russische Munitionsdepots im Frontbereich anzugreifen."

Darauf, so Reisner, habe Moskau aber rasch reagiert und diese Lager besser getarnt und verteilt – bis ins russische Kernland hinein, weshalb die Ukraine ihre Angriffe jüngst auch über die Grenze getragen hat.

Auch in Lwiw ganz im Westen der Ukraine fiel am Donnerstag der Strom aus – dieses Café weiß sich mit einem Generator zu behelfen.
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Moskau versuche zudem, sein Momentum auf der strategischen Ebene aufrechtzuerhalten, etwa was seine Luftüberlegenheit und die verheerenden Angriffe auf die Energieversorgung der Ukraine betrifft. "Das gelingt Russland, indem man – erfolgreich – mit dem Iran, Nordkorea und Südafrika verhandelt, um die Munitionsbestände aufrechtzuerhalten. Darüber kann man sich natürlich mokieren, aber es macht keinen Unterschied, ob nun eine russische Rakete die Ukraine trifft oder eine iranische Drohne. Was zählt, ist der Effekt", erklärt Reisner.

  • Neues Sanktionspaket

Die jüngsten "Nadelstiche" der ukrainischen Streitkräfte etwa gegen russische Luftwaffenbasen im Hinterland oder auf der Krim zielen dem Bundesheerexperten zufolge vor allem auf psychologische Effekte ab – wirklichen militärischen Nutzen hingegen haben sie bisher demnach nicht gezeitigt.

"Die Ukraine ist zum Erfolg verdammt. Sie muss mit ihren Offensiven dem Westen beweisen, dass es Sinn hat, sie zu unterstützen", sagt der Analyst. "Etwa die oft übersehene, dritte Offensive bei Melitopol könnte die Ukraine in eine strategisch günstige Position bringen, weil Russland dort dann eingeschlossene Truppen versorgen müsste."

Die Rückeroberungen der ukrainischen Armee, hier etwa sind zerstörte russische Militärfahrzeuge in Kupiansk zu sehen, dürfen nicht über den strategischen Vorteil Moskaus hinwegtäuschen, sagt Bundesheer-Analyst Markus Reisner.
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In Kiew bemüht man sich indes nach Kräften, der drohenden westlichen Kriegsmüdigkeit entgegenzuwirken. "Wir und die Welt dürfen uns jetzt nicht zurücklehnen", sagte am Donnerstag die britische Vizeverteidigungsministerin Hanna Maliar dem "Guardian". Schließlich sei es nach wie vor das Ziel Russlands, die gesamte Ukraine zu erobern: "Und dann kann Russland noch weiter vorstoßen."

Die EU-Staaten brachten unter dem Eindruck der Lage in der Ukraine am Rande ihres Gipfels am Donnerstag in Brüssel ein bereits neuntes Sanktionspaket gegen Russland auf Schiene. Vorgesehen sind unter anderem Strafmaßnahmen gegen russische Banken und zusätzliche Handelsbeschränkungen sowie eine Liste mit fast 200 Personen und Einrichtungen. Gegen sie werden Vermögenssperren und EU-Einreiseverbote verhängt. Den leidgeprüften Menschen in der Ukraine bringen derlei Strafmaßnahmen aber jedenfalls kurzfristig keine Linderung. (Florian Niederndorfer, 16.12.2022)