Das Handy ist für geflüchtete Menschen der wichtigste Begleiter und macht "care relations" dennoch nicht einfach.

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Fatima ist anerkannter Flüchtling. Seit 2015 lebt sie mit ihrem Mann, einer Tochter und einem Sohn in Wien. Ein weiterer Sohn lebt in Dubai und ihre ältere Tochter mit zwei kleinen Kindern in Damaskus, wo Fatima geboren und aufgewachsen ist. Dort leben außerdem ihre Mutter sowie Cousinen und Cousins. Fatimas Vater ist 2016 in Syrien verstorben, an seinem Begräbnis konnte Fatima nicht teilnehmen, aber sie bestand darauf, zumindest über Videotelefonie dabei zu sein. Fatima steht mit sämtlichen Mitgliedern ihrer Familie in engem Austausch, kümmert sich um sie alle. Mit ihrer Familie verbinden sie enge Sorgebeziehungen, sogenannte "care relations". Sie zählt zu jenen dreißig Menschen, die an der ethnografischen Forschung teilnahmen zur Frage, wie Menschen nach der Flucht enge Beziehungen trotz großer geografischer Distanz aufrechterhalten und wie neue Kommunikationsmedien die familiären Verbindungen beeinflussen.

Der öffentliche Diskurs zu Menschen auf der Flucht findet, von wenigen Ausnahmen abgesehen, ohne sie statt. Man spricht über Menschen auf der Flucht als "Asylwerberinnen", "Migranten", "Fremde", sie selbst kommen selten zu Wort. Das spiegelt sich auch in der medialen Berichterstattung wider. Bilder zeigen selten Individuen, sondern eher Kollektive: Flüchtende in Gruppen, die mit Sprachbildern beschrieben werden, die auf Naturkatastrophen zu verweisen scheinen wie Flüchtlingswelle, -flut oder -strom. Die Kategorisierung von Geflüchteten folgt der Bipolarität von Opfer und Bedrohung, sie werden als erwünscht und unerwünscht, legitim und illegitim klassifiziert, wobei Zuschreibungen schnell kippen können.

Opfernarrativ

Geopolitische Bedingungen, die zu massiven Vertreibungen führen, werden in den Hintergrund gedrängt. Als Kollektiv verlieren Geflüchtete schnell ihre Geschichtlichkeit, ihre Individualität und Stimme. Viele hadern mit der Tatsache, dass sie vornehmlich als "Flüchtling" wahrgenommen werden. "Als ich meine Deutschkurse absolviert hatte und mich endlich an der Uni inskribieren konnte, fühlte ich mich befreit. Ab da war ich Student, nicht mehr nur Flüchtling", sagt Yezan, der seit sieben Jahren in Österreich lebt.

Im humanitären Diskurs wiederum sind Menschen, die fliehen, vor allem Opfer. Ihre Identität als aktiv handelnde Personen wird ausgeblendet. Dabei sind Menschen auf der Flucht oder jene, die bereits im Zielland angekommen sind, so gut wie nie allein. Wie alle Menschen sind sie in soziale Beziehungen integriert, die oft nicht mit physischer Nähe einhergehen (können). Wie erhalten also Menschen auf und nach der Flucht ihre Beziehungen über geografische Distanzen hinweg aufrecht? Im öffentlichen Diskurs wird nicht berücksichtigt, dass Geflüchtete nicht nur Hilfeleistungen annehmen, sondern auch vieles geben, indem sie Verantwortung für Angehörige und Nahestehende über Grenzen hinweg tragen. Genau hier spielen neue Kommunikationsmedien eine wichtige Rolle.

Der wichtigste Begleiter

Amina aus Syrien ist mit drei Kindern nach Österreich geflohen. Und nicht nur, weil ihr Mann in Dubai geblieben ist, sagt sie halb scherzend in einem Interview: "Ohne mein Smartphone wäre ich verloren ... ich habe alles mit Google Translate übersetzt, und ohne Google Maps hättet ihr mich in einem anderen Land wiedergefunden." Das Mobiltelefon ist Aminas wichtigster Begleiter, um den ständigen Mangel an Informationen auszugleichen. Amina entschied sich für Österreich, weil hier die beste Freundin ihrer Mutter über drei Jahrzehnte lebte. Außerdem hatten Amina und ihr Mann vor zwanzig Jahren ihre Flitterwochen in Wien verbracht.

Heute, ohne Mann und alleine mit drei Kindern, ist das Leben in Wien alles andere als einfach. Sie muss eine leistbare Wohnung finden, den Deutschkurs absolvieren, Arbeit suchen, sich um die Kinder kümmern und ihnen vor allem emotionale Sicherheit geben. Über die App Botim führt sie täglich Videocalls mit ihrem Mann in Dubai, Whatsapp ist in den Arabischen Emiraten verboten: "Die Kinder sprechen über Botim mit ihrem Vater, wenn sie etwas Schönes erlebt haben oder wenn sie mit mir einen Streit haben", sagt sie und erklärt: "Wenn ich meinen Mann besuchen möchte, bekomme ich kein Visum, weil die Golfstaaten meinen Reisepass nicht akzeptieren." Ein Besuch für ihn ist schwierig und, wenn, nur für wenige Tage möglich. Bis vor kurzem ging wegen der Covid-Maßnahmen nicht einmal das.

"Medien der Fürsorge" bieten Unterstützung

Digitale Medien im Kontext von Flucht und Vertreibung werden ambivalent erlebt und stehen im Spannungsverhältnis von eigener Handlungsmacht und externer Kontrolle. Einerseits nutzen Staaten Informations- und Kommunikationstechnologien, um Migration zu kontrollieren. Geografische Informationssysteme, globale Ortungssysteme und biometrische Datenbanken sind zu Schlüsseltechnologien für die Überwachung und Fernhaltung von Geflüchteten geworden. Auf der anderen Seite nutzen Geflüchtete die digitale Infrastruktur, um sich im Migrations- und Grenzregime zurechtzufinden.

Dazu gehören eben auch grenzüberschreitende Sorgebeziehungen, mit denen Geflüchtete Ansprüche auf transnationale Zugehörigkeit erheben und Grenzregime zu einem gewissen Grad aufweichen. Die Ergebnisse der digital-ethnografischen Forschung – einschließlich von Interviews, digitalen Tagebüchern und teilnehmender Beobachtung – zeigen das Potenzial, aber auch die Grenzen der Informations- und Kommunikationstechnologien als "Media of Care", also "Medien der Fürsorge". Auch die Unterstützung anderer Geflüchteter, die vor kurzem nach Österreich gekommen sind, gehört dazu. So hilft z. B. Fatimas Tochter bei Amtswegen und übersetzt, außerdem organisiert sie Veranstaltungen, um Spenden für Geflüchtete zu sammeln.

Sorgebeziehungen zeichnen sich nicht nur dadurch aus, dass die Familienmitglieder in Verbindung bleiben oder sich finanziell unterstützen, sondern auch durch emotionalen Rückhalt, der durch digitale Kommunikationsmethoden über große Distanzen gegeben wird. Aufgrund rigider Regeln für Zusammenführungen sind Familien nur in seltenen Fällen tatsächlich physisch vereint. Weil eine Familienzusammenführung nicht mehr möglich ist, wenn die Kinder volljährig sind, dürfen zwei von Fatimas Kindern nicht nachkommen, und auch Yezan kann seine Eltern nicht nachholen oder im gleichen Land mit seinen Geschwistern leben.

Emotionaler Rückhalt

Die Videotelefonie, die manchen vielleicht als eine lästige Folge der Corona-Pandemie erscheinen mag, ist für verstreut lebende Flüchtlingsfamilien oft die einzige Möglichkeit, eine Familie zu bleiben, über eine ungewisse und lange Zeit. Exemplarisch, aber nicht selten, sind Eltern, die ihre Kinder über viele Jahre nicht sehen können, und Großeltern, die zwar mit ihren Enkelkindern seit Jahren über Videotelefonie in Kontakt sind, sie aber noch nie im Arm halten konnten. Ähnlich ist das für Fatima, die ihre Enkeltochter in Syrien zuletzt als Baby gesehen hat und ihren fünfjährigen Neffen nur über Videotelefonie kennengelernt hat: "Meine Tochter zeigt den Kindern das Telefon, und jetzt ist die Tochter daran gewöhnt, manchmal kommt sie zu ihrer Mutter, und sie sagt, dass sie mit der Oma sprechen möchte. Als der Bub kleiner war, habe ich für ihn immer gesungen. Ich spiele auch manchmal mit ihnen, wenn wir auf Messenger sprechen, weil da kann man sein Gesicht ändern, und wir lachen zusammen." Und wenn ihre Enkelin malt, zeigt sie ihr stolz die Bilder. Oft zweimal täglich steht Fatima in Kontakt mit ihrer Tochter.

"Doing family", wie es im sozialwissenschaftlichen Diskurs genannt wird, heißt, dass Familie durch gemeinsame Handlungen kreiert wird bzw. werden muss, sodass sie "funktionieren" kann. Das gilt für alle Familien, aber erst recht für jene, deren Mitglieder physisch voneinander getrennt leben. Es geht um Routinen, gemeinsame digitale Zeiträume, wie einen Morgengruß oder einen abendlichen Videocall. Bilder und Emojis werden geschickt, Familien-Whatsapp-Gruppen eingerichtet, gemeinsam Video gespielt oder Kochanleitungen ausgetauscht.

Geflüchtete betrachten den Umgang mit den Handys oft auch kontrovers, etwa wenn ihnen soziale Medien die traumatischen Kriegsgeschehnisse aus dem Heimatort aufs Display liefern. Auch kann das mobile Endgerät nicht immer ein Ersatz für physische Nähe sein, besonders dann nicht, wenn ein Baby geboren wird, jemand schwer krank wird oder stirbt. Auch die ständige Erreichbarkeit kann mitunter zu einer Belastung werden, beispielsweise wenn sie ungewünschte Nähe erzeugt oder überbordende Unterstützungserwartungen mit sich bringt.

Junge Geflüchtete

Für junge Geflüchtete sind digitale Medien überhaupt zweischneidig. Sie können nicht, wie andere in ihrem Alter, das Mobiltelefon nur nach eigenen Bedürfnissen nutzen, sondern werden oft angehalten, sämtliche Familienangelegenheiten damit zu managen. Daja, eine junge Frau, die im Irak aufgewachsen ist, in Syrien gelebt hat und mit den Eltern 2015 nach Wien kam, beschreibt es so: "Alles begann, als wir Syrien verließen. Ich war die Einzige mit einem Smartphone, also war immer ich es, die mit allen in Kontakt blieb. Ich recherchierte die Route im Internet."

Von dem Tag an, an dem sie Syrien verließ, übernahm sie die Verantwortung, und bis heute hat sie das Gefühl, dass ihr Vater verärgert ist, weil sie ihm sagen muss, was er zu tun und zu lassen hat. In Syrien war Daja ein Kind, das sich auf die Eltern verlassen konnte, seit der Flucht ist das umgekehrt. Es ist heute bekannt, dass viele Kinder in Migrationsfamilien oft eine wichtige Rolle für Amtswege, Arztbesuche und Schulangelegenheiten spielen. Durch die steigende Bedeutung digitaler Medien im Alltag übernehmen die jüngeren, digital affineren Familienmitglieder eine enorme Verantwortung. Das bleibt zwischen den Generationen nicht immer konfliktfrei und rüttelt an Genderrollen.

Online und offline

Die Ergebnisse der digital-ethnografischen Forschung zeigen, wie Geflüchtete durch die digitale Infrastruktur und die multiplen Möglichkeiten der Kommunikation und die ständige Erreichbarkeit eine mehrfache Kopräsenz mit Familie und Nahestehenden aufbauen, die sich über verschiedene geografische Orte erstreckt und unterschiedliche physische und virtuelle Räume miteinander verbindet.

Online- und Offline-Aktivitäten sind intensiv miteinander verflochten, das Hier und Jetzt ist multilokal. Wenn heute jemand in Syrien ein Kind erwartet, dann werden in Wien Süßigkeiten in kleine rosa Geschenkschachteln mit der arabischen Aufschrift "It’s a girl" verpackt und an Bekannte in Wien verschenkt. Die Freude wird so geteilt. Über alle Grenzen hinweg. (Monika Palmberger, 19.12.2022)