Stille Wasser sind tief: Nadine Schneider.

Foto: Laurin Gutwin

Auf den ersten Blick könnte es gar eine Fortsetzung ihres Debütromans Drei Kilometer aus dem Jahr 2019 sein. Darin verabreden sich drei junge Menschen, zwei Männer und eine Frau, im Sommer 1989 aus Rumänien zu flüchten, am Ende geht nur einer über die Grenze. Im neuen Roman sind es zwei junge Männer, und wieder bleibt einer zurück. Das war 1986, in der Romangegenwart haben wir das Jahr 1992, nun wird das Danach erzählt: Wie ist es Johannes, der durch die Donau geschwommen ist, seither in Deutschland ergangen, und warum ist sein Freund David damals nicht mitgekommen? Es bleibt immer jemand und irgendetwas zurück.

Flucht aus Rumänien, Leben in Deutschland

Vielleicht ist das ein Grundmuster in Nadine Schneiders Romanen – aber man möge nicht vorschnell sein, schließlich ist es erst der zweite Roman der 1990 in Nürnberg geborenen Autorin, Tochter deutscher Spätaussiedler aus Rumänien. Aber die Muster gleichen sich, und auch wenn es eine andere Geschichte mit anderen Personen ist, könnte man Wohin ich immer gehe als Teil zwei von Drei Kilometer lesen.

Johannes hat sein altes Leben in Rumänien zurückgelassen, hat sich in Deutschland zum Hörgeräteakustiker ausbilden lassen. Er lebt allein, auch wenn es da seine Kollegin Giulia gibt, "eine beste Freundin". Das Verhältnis der beiden scheint indifferent, und so scheint Johannes der Welt insgesamt und nach außen hin auch seiner eigenen Geschichte gegenüberzustehen. Dass er nach der Wende einmal sein rumänisches Heimatdorf besucht hätte, wo immerhin seine Eltern leben? Fehlmeldung, die Vergangenheit scheint ihn nicht zu berühren.

Prekäres Verhältnis

Sechs Jahre nach seiner Flucht, nach dem Beginn seines neuen Lebens, muss er sich dennoch ins Auto setzen, er muss zum Begräbnis seines Vaters. Zwischen Johannes und der Vergangenheit liegen 600 Kilometer. Am alten Ort angekommen, ist alles nah und fremd zugleich. Einmal das prekäre Verhältnis zum Vater, der ihm nur unangenehm in Erinnerung ist – die Beziehung zu ihm war schon früh zerrüttet, aber auch die Mutter ist ihm fremd geworden.

Überhaupt die Familiengeschichte, deren Bruchlinien nur angedeutet sind: Johannes’ Bruder hat sich, ohne dass man einen Grund kennt, erschossen, insgesamt werden vier Selbstmordfälle in der Familie erwähnt, daran anknüpfende Erzählstränge aber nicht weitergeführt. Und da ist Johannes’ Freund David, mit dem er doch damals durch die Donau schwimmen wollte, hinüber auf die serbische Seite. Aber David verschwand kurz davor.

Nadine Schneider, "Wohin ich immer gehe". € 22,– / 236 Seiten. Jung und Jung, Salzburg 2021.
Jung und Jung

Stille Töne

Nadine Schneider geht mit den Rückblenden sparsam um, dennoch werden die Fluchtvorbereitungen, wenn auch mehr am Rande, atmosphärisch erzählt: wie sie sich immer wieder an einen Weiher zurückziehen, um hier Kondition im Schwimmen zu erwerben. In diesem Weiher hat Johannes einst von seinem Vater das Schwimmen gelernt. Aber es ist nicht nur diese Verknüpfung. Johannes und David verbinden auch homoerotische Gefühle, die die Autorin ebenso nicht weiter ausführt.

Vielmehr ist es ein Roman der Andeutungen, Möglichkeiten, der offenen Schlüsse und vor allem der stillen Töne. In ihrem ersten Roman hat Schneider in erster Linie das Beziehungsgeflecht einer Dreieckssituation ausgelotet, und es wurde der Perspektivlosigkeit junger Menschen viel Raum gegeben. Diesmal erleben wir auch einen sozialen Gegensatz innerhalb der Familie: Während die Stadt-Großmutter mit ihrem geheimnisvollen Parteibuch in Erinnerung bleibt, sind es bei der Großmutter auf dem Land Bibel, Kochbuch und Poesiealbum.

Zimmer der Toten

Eine viel buntere Welt. Für Johannes ist das alte Zuhause das "Herzhaus", in dem die Zimmer der Toten unberührt bleiben. Indem er selbst "eine Art Toter in diesem Haus" ist, bleibt alles wie eine ferne Erinnerung, und im Heimatdorf bleiben Leere und Fremdheit zurück, denn "irgendwann hatte auch alles andere aufgehört zu leben". Die Frage nach dem Warum des damals Geschehenen wird nicht mehr gestellt. Da verlässt einer sein altes Leben, fragt nicht, sagt nichts.

Wohin ich immer gehe ist ein stiller, bewundernswerter Roman, das Gegenteil von hipper Zeitgeistliteratur. Nur wenige von Nadine Schneiders Generation vermögen so zu schreiben.(Gerhard Zeillinger, 16.12.2022)