Menschen dürfen wieder nach draußen, mit den Lockdowns geht es zu Ende. Viele Chinesen trauen sich nach drei Jahren Corona-Propaganda aber noch nicht so richtig.

Foto: EPA / Wu Hao

Leere Medikamentenregale in China. Wie viel aktuellem Bedarf geschuldet ist und wie viel vorsorglichem Kauf, ist unsicher.

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Fast drei Jahre lang war in China ein für die Volksrepublik ungewöhnliches Schauspiel zu beobachten: Behörden meldeten Corona-Zahlen, und auch Beobachter im Westen schätzten sie als seriös ein. Der Grund ist schnell erklärt: Peking versuchte mit Zero Covid die vollständige Unterdrückung des Virus, Chinesinnen und Chinesen wurden ständig und flächendeckend getestet. Und lokale Behörden hatten Anreize, die Zahlen auch zu melden, um keinen Ausbruch zu riskieren. Allein: Die geringe Zahl der Toten, die es unter den doch zahlreichen Corona-Fällen bisher gegeben haben soll, machte viele stutzig.

Nun aber ist das Schauspiel vorbei. China hat sich von der Zero-Covid-Politik abgewandt, und plötzlich fehlen die Zahlen. Viele Infizierte melden sich nicht mehr bei den Behörden, seitdem die flächendeckenden Tests beendet wurden. Zahlreiche weitere kurieren ihre Erkrankung zu Hause aus. Und auch der Anreiz, alle Fälle zu melden, fehlt. Im Gegenteil: Die offizielle Propaganda hat sich gedreht. Das Virus soll nun als harmlos gelten, eine Infektion als mehr oder minder normale Erkältung. Zu hohe Zahlen in zu kurzer Zeit würden dieses Bild zerstören. Trotzdem mehren sich die Anzeichen dafür, dass sich in China eine massive Corona-Welle aufbaut.

Frage: Wenn offizielle Zahlen fehlen – woher glauben wir dann, von einer Corona-Welle in China zu wissen?

Antwort: Berichte aus den Krankenhäusern in großen Städten legen das nahe. Sie sollen nach Angaben der Agentur Reuters, die sich auf Quellen vor Ort beruft, teils bereits jetzt überfüllt sein. Ärztinnen und Pflegern wurde offenbar nahegelegt, auch im Fall einer Infektion weiterzuarbeiten, um die Personalknappheit zu beschränken. Videos, die die Hongkonger "South China Morning Post" diese Woche präsentierte, zeigen, wie Corona-Kranke in ihren Autos an Infusionen gehängt werden, weil die Spitäler bereits überfüllt sind. Weiteres Indiz: Viele Geschäfte und Firmen haben geschlossen, weil das Personal nicht zur Arbeit erscheint. Das alles passt nicht zu den offiziellen Angaben, wonach es am Donnerstag – dem letzten Tag, für den vorerst Zahlen verfügbar waren – nur 2.700 bestätigte Infektionen gegeben haben soll. Schmerz- und Erkältungsmittel sind in Apotheken vielfach ausverkauft.

Frage: Ist es dann überhaupt sicher, dass diese Menschen alle an Covid erkrankt sind?

Antwort: Nein, eine Bestätigung dafür gibt es – mangels verlässlicher Zahlen – natürlich nicht. Für einige der Beobachtungen gibt es auch andere Erklärungsmodelle. Eines davon liegt erneut in der Propaganda: Diese ist zwar zuletzt umgeschwenkt, präsentiert China nun als gut vorbereitet und Omikron als relativ harmlos. Zuvor aber hat der Staat fast drei Jahre lang alles getan, um Corona als schwerwiegende Gefahr darzustellen. Trotz des Umschwungs in der veröffentlichten Meinung haben das viele nicht vergessen. Sie fürchten die sich nun aufbauende Infektionswelle und meiden daher vorerst den Kontakt mit anderen. Firmen, die Mitarbeitenden die Rückkehr ins Büro erlauben, stellten fest, dass diese vorerst zu Hause bleiben. Vor allem ältere Menschen trauen sich Berichten zufolge vielfach nicht auf die Straße. Der Ansturm auf Schmerz- und Erkältungsmedikamente lässt sich auch mit prophylaktischen Käufen erklären. In den vergangenen drei Jahren war in vielen Städten der Kauf nämlich verboten, weil die Behörden verhindern wollten, dass potenziell Corona-Kranke sich selbst behandeln und sich der staatlichen Quarantäne entziehen.

Frage: Die vollen Krankenhäuser erklärt das aber nicht, oder?

Antwort: Nein. Allerdings geben diese allein noch keinen Aufschluss darüber, wie schwer die aktuelle Corona-Welle wirklich ausfällt. Denn anders als in Europa ist es in China üblich, auch wegen kleinerer Beschwerden – also etwa bei Erkältungssymptomen – bereits die Spitäler aufzusuchen. Ein gut ausgebautes System für allgemeinmedizinische Versorgung gibt es nicht. Zwar rufen offizielle Stellen dazu auf, im Fall einer Infektion einfach zu Hause zu bleiben – viele Menschen befolgen das aber nicht. Auch die Spitalsversorgung ist aber nicht für eine hohe Zahl an Erkrankten geschaffen. Bereits eine relativ milde Corona-Welle würde also schon zu den Zuständen führen, die aktuell zu beobachten sind.

Frage: Und was passiert dann?

Antwort: Dann wird es kritisch. Schon jetzt werden Medienberichten zufolge in vielen Krankenhäusern alle Operationen verschoben, die nicht unmittelbar der Lebensrettung dienen. Baut sich die Corona-Welle weiter auf, könnte sich der Andrang aber noch deutlich verstärken – und zudem noch mehr ärztliches und pflegendes Personal ausfallen. Zudem ist die Immunität mangels bisheriger Corona-Wellen gering. Das ist die Sorge, die viele derzeit umtreibt. An sich werden in China, aufbauend auf der Omikron-Sterblichkeit anderswo, rund 680.000 Corona-Todesfälle erwartet, hat der britische "Economist" errechnet. Das Blatt schränkt aber ein: Das gelte nur dann, wenn die medizinische Versorgung für mittelschwere und schwere Fälle aufrecht bleibe – andernfalls könnten die tatsächlichen Todesfälle deutlich höher liegen.

Frage: Bereitet sich die Regierung denn darauf vor?

Antwort: Viel Zeit für Anstrengungen dazu gab es bisher nicht. Der Wandel von Zero Covid zur relativen Öffnung ist ja binnen weniger Tage vollzogen worden – beschleunigt wohl auch durch die großen Proteste vor einigen Wochen. Dass Peking den Sinneswandel nun auch noch mitten im Winter in die Tat umgesetzt hat, hilft der Sache nicht. Wie Berichten zu entnehmen ist, sollen einige der erst gerade errichteten Quarantänezentren nun zu Covid-Spitälern werden. Das braucht aber auch in China, wo solche Projekte vergleichsweise schnell umgesetzt werden, einige Zeit. Schneller könnte die Propaganda die Impfkampagne wieder in Schwung bringen. Hier wurde allerdings zuletzt einiges versäumt. Wegen der lange sehr geringen Infektionsraten war die Impfmotivation bei vielen Menschen in China gering. Ganz besonders gefährdete ältere Menschen sind nun in großer Zahl ungeschützt.

Frage: Gibt es in China denn überhaupt wirksame Impfstoffe gegen Omikron?

Antwort: Das grundsätzliche Problem ähnelt jenem im Westen, wird in China aber noch verschärft: Gegen eine Infektion mit Omikron schützen die in China verbreiteten Vakzine laut Forschung noch schlechter als die mRNA-Impfungen. Ein Schutz gegen schwere Verläufe und gegen Todesfälle würde aber auch mit den chinesischen Produkten bestehen. Allerdings legen die Forschungsergebnisse – und auch Daten von der Omikron-Welle in Hongkong im Frühjahr – nahe, dass dafür mindestens drei Impfungen notwendig sind. Und genau daran fehlt es. Von den rund 260 Millionen Menschen, die in China über 60 Jahre alt sind, sind 86 Prozent zweimal, aber nur 69 Prozent dreimal geimpft. Von jenen über 80 sind überhaupt nur 40 Prozent dreimal geimpft. In dieser besonders gefährdeten Altersgruppe ist auch der Anteil der völlig ungeimpften Menschen am höchsten. Die chinesische Regierung will nun eine neue Kampagne starten.

Frage: Wenn das alles so ist, wieso gibt es dann keine Corona-Toten?

Antwort: Die Zahl der von China gemeldeten Corona-Toten ist in der Tat äußerst gering. China hat am Freitag überhaupt zum ersten Mal seit den Zero-Covid-Lockerungen vom 7. Dezember Tote gemeldet. Deren Identität macht allerdings misstrauisch: Es handelt sich um einen Reporter der chinesischen Volkszeitung und um einen weiteren Journalisten der ebenfalls parteieigenen Jugendzeitung. Dass ausgerechnet sie die einzigen Corona-Toten seit 3. Dezember sein sollten, scheint nicht plausibel. Zumal China auch in normalen Zeiten Todesfälle selten Infektionen zuschreibt – weil Tote kaum getestet werden und weil die Regierung fürchtet, entsprechende Informationen könnten die Stabilität gefährden. Auch Grippetote gibt es in China etwa offiziell kaum. Die "Financial Times" berichtet unter Berufung auf Krematoriumsmitarbeiter in Peking von steigenden Todeszahlen. Von 150 Toten, die man zuletzt eingeäschert habe, seien 40 an Covid verstorben, heißt es dort.

Frage: Sind auch in Europa Auswirkungen zu erwarten?

Antwort: Die wirtschaftlichen Auswirkungen sind aktuell schwer abzusehen und mit den bisher prognostizierten Folgen der Zero-Covid-Politik abzuwägen. So wird es wohl weniger Lockdowns geben, die künftig Lieferketten gefährden könnten – dafür aber könnte es wegen krankheitsbedingter Ausfälle beim Personal zu Problemen kommen. Analysten bei JPMorgan gingen am Freitag davon aus, dass die Wirtschaft in China 2022 nur um 2,2 Prozent wachsen werde. Die Regierung kündigte am Freitag Unterstützungsmaßnahmen an. All das wäre auch in Europa zu spüren. Zudem gibt es noch eine weitere Sorge: Das Virus findet in China ein neues Reservoir unter 1,4 Milliarden Menschen, die bisher nicht infiziert waren. Das könnte noch einmal zu neuen Mutationen führen. (Manuel Escher, 16.12.2022)