Soziologin Hannah Quinz schreibt in ihrem Gastkommentar über den anhaltenden Wertverlust vom Arbeitslosengeld und von der Notstandshilfe. Besonders betroffen seien "Menschen, die länger auf Arbeitssuche sind".

Ohne Reform der Arbeitslosenversicherung führen die aktuellen Teuerungen automatisch zu einem degressiven – also einem sich ständig vermindernden – Arbeitslosengeld. Als Fixbeträge verlieren Arbeitslosengeld und Notstandshilfe laufend an Wert, weil Preise für Wohnen, Lebensmittel und andere notwendige Ausgaben steigen. Eine Valorisierung, wie bei anderen Sozialleistungen, wurde mit Verweis auf die geplante Reform nicht vorgenommen. Diese wird aber nun nicht umgesetzt, weil sich die Regierungsparteien nicht einigen konnten.

Foto: Gettty Images

Durch den anhaltenden Wertverlust sind nun noch mehr Menschen, die auf diese Versicherungsleistungen angewiesen sind, armutsgefährdet. Mit 55 Prozent des vorherigen Einkommens zwölfmal im Jahr ist das Arbeitslosengeld in Österreich im europäischen Vergleich niedrig.

Zudem werden nicht die Beiträge des letzten Jahres vor der Arbeitslosigkeit, sondern jene aus dem vorvorigen Jahr zur Berechnung herangezogen. Dadurch erreicht das Arbeitslosengeld derzeit nicht einmal 50 Prozent des Einkommens vor der Arbeitslosigkeit. Nach einigen Monaten verringert sich dieser Fixbetrag dann noch einmal auf die Leistung aus der Notstandshilfe.

"Schon vor der Teuerung war jede zweite langzeiterwerbslose Person in Österreich armutsgefährdet."

Das Arbeitslosengeld hat als Versicherungsleistung den Zweck, die finanzielle Lebensgrundlage von arbeitssuchenden Menschen abzusichern, ist aber oft nicht einmal armutsfest. Der Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und Armut ist wissenschaftlich gut belegt. Bereits im Jahr 2021 lagen das durchschnittliche Arbeitslosengeld und die durchschnittliche Notstandshilfe in Österreich unter der Armutsgefährdungsgrenze.

Besonders betroffen sind Menschen, die länger auf Arbeitssuche sind. Schon vor der Teuerung war jede zweite langzeiterwerbslose Person in Österreich armutsgefährdet und 40 Prozent materiell depriviert. Das heißt zum Beispiel, sich keine warmen Winterschuhe kaufen zu können, wenn man welche braucht, oder nicht die gesamte Wohnung heizen zu können. Aber werden nicht gerade überall "händeringend" Arbeitskräfte gesucht? Viele ältere oder gesundheitlich beeinträchtigte Arbeitssuchende werden trotzdem nicht aufgenommen und werden oder bleiben daher langzeitarbeitslos. Sie bekommen nun die Folgen der wenig innovativen Personalpolitik vieler Unternehmen zu spüren.

So stellt das Wifo beispielsweise für 2017 fest, dass nur 16 Prozent aller Unternehmen in Österreich Personen im Alter von über 50 Jahren einstellen und nur 13 Prozent Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen. Entsprechend sind laut Daten des Arbeitsmarktservice für 2021 unter allen erwerbslosen Personen ältere und gesundheitlich beeinträchtigte Personen jene, die am häufigsten ein Jahr und länger erwerbslos sind. Das zeigt, dass der Großteil der Personalpolitik auf junge und gesundheitlich fitte Arbeitskräfte ausgerichtet ist, anstatt Arbeitsbedingungen und Arbeitszeitmodelle an die Möglichkeiten und Fähigkeiten der Arbeit suchenden Menschen anzupassen, um auch ihnen Erwerbsarbeit zu ermöglichen.

Ausbleibende Anhebung

Die ausbleibende Anhebung von Arbeitslosengeld und Notstands- hilfe verschärft angesichts der hohen Inflation nun die Gefahr von Armut und sozialer Ausgrenzung für noch mehr Menschen. Geldmangel und abnehmende soziale Kontakte machen die Arbeitssuche noch schwieriger und haben zudem negative gesundheitliche Auswirkungen. Das führt nicht nur zu menschlichem Leid, sondern hat auch zu Folgekosten für die Gesellschaft. Umgekehrt hätte eine Erhöhung der Nettoersatzrate von 55 auf 70 Prozent positive gesellschaftliche Auswirkungen.

Dabei würde das Arbeitslosengeld grundsätzlich auf 70 Prozent des Nettoeinkommens der letzten Beschäftigung angehoben, um Menschen, die ihren Arbeitsplatz verlieren, finanziell abzusichern. Dadurch wären laut einer Studie des Europäischen Zentrums für Wohlfahrtspolitik und Sozialforschung im Jahr 2019 von 196.800 armutsgefährdeten erwerbarbeitslosen Personen 22.000 Personen weniger armutsgefährdet gewesen. Gesamtgesellschaftlich würden vor allem untere Einkommensgruppen von einer Erhöhung des Arbeitslosengeldes profitieren.

Eine Sora-Umfrage zur Arbeitsmarktsituation vom 30. April 2022 zeigt: In der Bevölkerung spricht sich aktuell eine klare Mehrheit von 63 Prozent, das heißt mehr als sechs von zehn Befragten, für ein nachhaltig existenzsicherndes Arbeitslosengeld aus.

Eine umfassend existenzsichernde Arbeitslosenversicherungsleistung als Antwort auf die Teuerung wäre ein wichtiger erster Schritt. Denn sozialwissenschaftliche Forschung zu Arbeitslosigkeit aus gut 100 Jahren zeigt: Längere Erwerbsarbeitslosigkeit ist selten individuell verschuldet. Menschen wollen arbeiten und sollten nicht zusätzlich zu ihrer Ausgrenzung aus der Beschäftigung auch noch in Armut gestürzt werden. (Hannah Quinz, 17.12.2022)